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Die Utopie als Geschichte - Chancen und Grenzen
SSJKamui:
Nun ja, alle Spiele, die ich zum Thema Utopie gesehen habe, gingen in Richtung Wirtschaftssimulation. Außerdem dachte ich mir, dies sei am logischsten.
Das mit der Raumkolonie fiel mir ein, als ich die Spiele M.U.L.E und Utopia wieder gesehen habe. Zuerst hatte ich das Konzept des Wiederaufbaus einer zerstörten Erde, empfand dies aber als etwas zu hart und drastisch. Eine andere Idee war eine künstliche Enklave von Großkonzernen, doch dies hätte die Utopie schon als Kapitalistisch vordefiniert. Deshalb hielt ich die Raumkolonie für die bessere Lösung.
Ich habe ehrlichgesagt momentan auch extrem viele Spielideen bei mir rumgeistern. Die Utopie ist nur eine davon. Ich werde also definitiv manche Sachen wegkürzen oder verschieben müssen.
Ein Weglassen einer Kriegsmöglichkeit passt zum Einen besser ins Szenario. Zum Anderen erleichtert dies den Programmieraufwand ungemein. Es braucht keine komplizierten Wegfindungsroutinen, Befehlsmöglichkeiten, Sichtfeld KIs etc. Dies reduziert die Programmierarbeit richtig stark.
Die Idee mit den kulturellen Durchbrüchen gefällt mir sehr gut. Das passt auch gut zu meiner Forschungsidee. Könnte man auch gut mit irgendwelchen Evolutionsmöglichkeiten verbinden, dass, wenn man viele Leistungen in einer Richtung XY erbracht hat, zu einer höheren Stufe der Existenz werden kann, ähnlich wie bei dem Roman "Die Letzte Generation". Dies würde das Spielprinzip in dem Moment aber auch radikal ändern.
Zu der Idee mit der Landgewinnung habe ich eben auch eine ganz gute Idee gehabt. Auf dem Planeten könnte es einen einheimischen Kristallwald geben, dem ab und zu Land abgetrotzt werden muss. Aber ähnlich wie das "Meer der Stille" im Film "Nausicaa aus dem Tal der Winde" dient der Wald auch dem Ökosystem des Planeten und je mehr man vom Wald abholzt, desto mehr Giftstoffe sammeln sich in der Atmosphäre und man muss mehr Geld aufwenden, die Kolonie in Stand zu halten. Ist einmal ein interessantes Spielprinzip und auf der anderen Seite auch ein Thema mit "Gesellschaftlicher Relevanz". (Siehe Regenwald.)
SSJKamui:
Ein paar Allgemeine Arten, wie man mit Utopien umgehen kann. Gute Fragen, die für das Thema der Utopie nützlich sind:
1. Was sind die Probleme von Utopieentwurf X, welche Konsequenzen könnten sie im schlimmsten Fall haben, und wie könnte man es in einer Utopie besser machen? Wie kann man diese Probleme vermeiden.
Beispielsweise. Ist es gut, dass in Walden Two eine Wissenschaftselite herrscht und die Menschheit von der Wiege bis zur Bare psychologisch manipuliert, um sie für den Staat auf den besten Weg zu bringen? Wäre es besser, die Macht der Regierung durch Verfassungen stärker einzuschränken? Wäre eine verstärkte demokratische Kontrolle besser?
2. Gibt es ähnlich zu den betrachteten Utopien aufgebaute Dystopien, welche auf ähnlichen Fundamenten aufgebaut sind, bei denen dieselben Technologien, die bei Utopie X ins Paradies führten, bei Dystopie Y eine Katastrophe verursachten? Wo liegt der Unterschied zwischen der dystopischen und der utopischen Umsetzung?
3. Gibt es Kritiker, die sich nichtfiktional gegen diese Utopie geäußert haben? Ist an ihren Argumenten was dran? Wie kann man dieser Kritik begegnen und wie kann man die Kritikpunkte beseitigen?
4. Gab es reale Versuche diesen Utopieentwurf umzusetzen? Funktionierte dies gut oder schlecht? Spiegelt die reale Umsetzung in Teilen die Meinung der Kritiker des Konzepts wieder? In wie fern ist dies so? Was für Ideen für die eigene Geschichte kann man daraus gewinnen?
(Beispielsweise gab es bei manchen Utopien Leute, die daraus in der Realität Überwachungsstaaten und Ähnliches machten. Solche Personen könnten gute Inspiration für Bösewichte abgeben.)
5. Gibt es ähnlliche Utopieideen wie die Betrachteten? Wo liegen Gemeinsamkeiten und Unterschiede?
6. Welche Probleme würde so eine Utopie mit sich bringen?
7. Gibt es Dystopien, welche die utopische Idee aufgriffen und so darstellten, dass sie in einer Katastrophe endeten? Was waren hier die Kritikpunkte und wie könnte die utopische Idee trotzdem funktionieren?
(Dieser Denkansatz wird von TVTropes als Reconstruction bezeichnet, also was Kritisiertes verbessert neu aufbauen. Diese Überlegung "andere kritisierten es, also zeige ich, wie man diese Kritik umsetzt zu eines Besseren" ist meiner Meinung nach besser und vernünftiger, als sich auf den Punkt zu stellen "Diese Leute ruinieren die Föderationsutopie" etc. )
8. Haben Dystopien gute Elemente, die im utopischen Kontext funktionieren können? Wie könnte man solche Elemente in einen utopischen Kontext setzen?
9. Existieren heute schon in der Politik Elemente, die sonst typisch für den utopischen Kontext sind?
10. Gibt es ein typisches Element klassischer Utopien, was Neutral ist, aber gleichzeitig vergessen und unpopulär ist? Wie kann dieses Element eingesetzt werden, um den Entwurf interessanter zu machen?
11. Ist es besser, dem Leser zu zeigen, was er sehen will, oder bringen Dissonanzen und Widerstände den Leser dazu, sich stärker mit dem Konzept auseinanderzusetzen?
12. Können mehrere Utopien vergleichend gegenübergestellt werden?
13. Wie kann sich eine Dystopie zu einer Utopie wandeln? Und wie kann sich eine Utopie zur Dystopie wandeln?
14. Welche Technologien faszinieren einen selbst, und wie können diese Technologien im utopischen Kontext angewandt werden?
15. Welche realen Gefahren für eine utopische Zukunft sind vorhanden? Wo wird eine (potenziell) utopische Idee verraten und missbraucht?
16. Was für einen Charakter müssen Menschen haben, die so eine Utopie wollen/unterstützen?
17. Will man selbst wirklich in so einer Gesellschaft leben? Wie sähe das eigene Leben in so einer Gesellschaft aus? Wäre es wirklich so positiv, wie man sich das auf den ersten Blick vorstellt? Ist die Utopie aber vielleicht auch nur das Paradies für alle anderen und nur die Hölle für man selbst? Welche Aspekte der Utopie wären für einen selbst am Gefährlichsten?
18. Gäbe es im Allgemeinen Gruppen, die unter dieser Utopiekonzeption leiden würden? Warum?
(Speziell solche Themen wie psychische Krankheiten und neurologische Störungen können da sehr relevant werden. Beispielsweise gehört es zur Gesellschaft von Ecotopia, dass Augenkontakt und Körperberührungen gesellschaftlich "gefördert werden", aber was ist mit Autisten, denen häufig beides unangenehm ist? Ist so eine Utopie für sie wirklich das Richtige?)
19. Welchen Leuten würde die Utopie am Meisten helfen? Sind dies auch wirklich die richtigen Leute?
20. Wie würden sich Figuren aus nicht utopischen Science Fiction Geschichten entwickeln, wenn sie stattdessen in dieser Utopie leben würden?
(Beispielsweise hat Brent Spinner solche Überlegungen in die Figur Data miteingeflossen. Er hat sich teilweise am Charakter Roy Batty aus dem Film Blade Runner orientiert und die Überlegung angestellt, was aus diesem Androiden wohl geworden wäre, wenn er in einem "netteren Umfeld wie der Föderation" gelebt haben könnte. (Und ist damit zum Schluss gekommen, er hätte nicht so verbittert und melancholisch werden müssen und diesen persönlichen Rachefeldzug starten müssen, hätte sein Umfeld ihn mehr unterstützt, anstatt ihn als Sklaven und Soldaten zu gebrauchen.)
Diese Überlegung ließe sich auch auf andere Charaktere nutzen. (Beispielsweise, wie hätte sich Anakin Skywalker entwickelt, wenn er in der Föderation aufgewachsen wäre, anstatt Sklave von einem schmierigen Ganoven gewesen zu sein? Oder was wäre aus Casval zum Daikun geworden, dem Sohn eines Philosophen, der von einer goldenen Zukunft der Menschheit im Weltall träumte, dessen Träume aber durch Intrigen bitter zerstört wurden und er selbst vergiftet wurde, was dazu führte, dass sein Sohn Casval am Ende dachte, die einzige Lösung sei das Ende der Menschheit? Was wäre mit Charakteren wie Shinji Ikari, Equality, Laura Roslin, Tom Zarek etc. passiert?)
Damit meine ich jetzt nicht, dass man einen konkreten Charakter komplett in ein anderes Umfeld übertragen soll, sondern einfach ein paar "Gedankenexperimente" anstellen kann, um sich über die jeweilige Utopie und ihre Bewohner klarer werden zu können)
21. Die Gegenfrage, wie utopische Charaktere wohl in einem nichtdystopischen Kontext zurechtkommen würden, ist natürlich genau so bedeutend.
22. Genau so wie die Frage, was aus den Charakteren in einer anderen Utopie geworden wäre.
23. Würde so eine Utopie lange bestehen?
24. Wie passt die Utopie am Besten in den Gesamtkontext der Geschichte? Können damit Aussagen unterstützt werden, oder steht die Utopie der Geschichte im Weg? Im zweiten Fall, wie kann man einen Kompromiss erreichen?
25. Was wäre das genau so positive Gegenteil der überlegten Utopie? Welche Möglichkeit wäre besser?
26. Wozu kann man als Autor die Utopie in der konkreten Geschichte anwenden?
27. Welche Art Visionär braucht so eine Utopie, um entstehen zu können?
28. Was wären ihre Feinde? Was wären ihre Freunde?
29. Wo könnte diese Utopie am Besten entstehen? Auf der gesamten Erde? In einem bestimmten Land? Auf einer kleinen Insel? Auf dem Meeresboden? In einer unterirdischen Höhle? Auf fremden Planeten? Auf großen Raumstationen im Weltall? Überall gleichzeitig?
30. Welche Wissenschaften und Technologien haben große Potenziale, die bisher noch nicht richtig genutzt wurden? Warum wurden die Potenziale noch nicht genutzt?
31. Was ist die Natur des Menschen und welche Konsequenzen würden sich daraus für eine mögliche Utopie ergeben?
(Eine der klassischen Fragen der Aufklärung. Eine Utopie, die den Menschen als von Natur aus Gut betrachtet, wird ihn anders behandeln, als eine Utopie, die davon ausgeht, dass sich alle ohne staatliche Kontrolle direkt gegenseitig an die Gurgel gehen würden.)
32. Warum wurde die Utopie XY geschrieben?
Beispielsweise, wenn ein Wissenschaftler X behauptet, mit den Technologien Y seiner Wissenschaft, die er auch selbst erfunden hatte, könnte man eine Utopie errichten, dient das Ganze wirklich dem heren Zweck, oder ist dieses Buch nichts weiter als eine andere Form von Eigenwerbung?
Durch diese Fragen lassen sich im utopischen Kontext viele Ideen für interessante Geschichten gesammelt werden. Dazu muss man die Fragen aber für sich ehrlich beantworten und sich nicht zu sehr von der eigenen Ideologie blenden lassen. Wenn man es genau nimmt, lässt sich so auch an die "Harten, schmerzhaften Fragen zum Thema" gelangen, an die Kontroversen etc. die einer Geschichte die besondere Würze geben.
Im Allgemeinen ist es dafür aber vom Vorteil, möglichst viele verschiedene Utopien und Dystopien zu kennen.
Max:
Hui, das ist ja wieder viel :) Da muss man sich erstmal "durchlesen" ;) :) ... und nach und nach antworten ;)
--- Zitat von: SSJKamui am 05.07.13, 23:10 ---1. Was sind die Probleme von Utopieentwurf X, welche Konsequenzen könnten sie im schlimmsten Fall haben, und wie könnte man es in einer Utopie besser machen? Wie kann man diese Probleme vermeiden.
Beispielsweise. Ist es gut, dass in Walden Two eine Wissenschaftselite herrscht und die Menschheit von der Wiege bis zur Bare psychologisch manipuliert, um sie für den Staat auf den besten Weg zu bringen?
--- Ende Zitat ---
Tja, da stellt sich natürlich schon mal die Frage, was eine Utopie ist, respektive ob das von Dir genannte Beispiel eine Utopie sein kann, wenn die in ihr Lebenden einem Verlust an Freiheit ausgesetzt sind, der dem in einer totalitären Gesellschaft entspricht.
SSJKamui:
--- Zitat von: Max am 06.07.13, 13:33 ---Hui, das ist ja wieder viel :) Da muss man sich erstmal "durchlesen" ;) :) ... und nach und nach antworten ;)
--- Zitat von: SSJKamui am 05.07.13, 23:10 ---1. Was sind die Probleme von Utopieentwurf X, welche Konsequenzen könnten sie im schlimmsten Fall haben, und wie könnte man es in einer Utopie besser machen? Wie kann man diese Probleme vermeiden.
Beispielsweise. Ist es gut, dass in Walden Two eine Wissenschaftselite herrscht und die Menschheit von der Wiege bis zur Bare psychologisch manipuliert, um sie für den Staat auf den besten Weg zu bringen?
--- Ende Zitat ---
Tja, da stellt sich natürlich schon mal die Frage, was eine Utopie ist, respektive ob das von Dir genannte Beispiel eine Utopie sein kann, wenn die in ihr Lebenden einem Verlust an Freiheit ausgesetzt sind, der dem in einer totalitären Gesellschaft entspricht.
--- Ende Zitat ---
Ich weiß, gerade Walden Two ist eines der kontroversesten Werke. Deshalb habe ich das auch als eines der Beispiele genommen. (Und daher rühren auch einige der späteren Fragen. Dieses Buch ist nämlich auf der einen Seite der "gute Zwilling" der Dystopie "Brave New World", da sich beide beschriebenen Staaten extremst ähneln, und auf der anderen Seite wurden die Ideen dieser Utopie nämlich in der dystopie "A Clockwork Orange" aufgegriffen und kritisiert. Dann war dieses Buch zwar einer der Gründe, warum in den USA die Prügelstrafe an Schulen abgeschafft wurde, aber gleichzeitig haben manche Leute auf Basis dieses Buchs Schulen/Institute errichtet, die in gewisser Weise George Orwells Ozeanien im Kleinen sind.
Ebenfalls war Walden Two der Versuch, quasi Marx Konzeption soweit zu verbessern, dass es nicht zu etwas wie der UDSSR führen würde, war selber aber ebenfalls extrem fragwürdig.)
Und ich muss zugeben, so gut wie alle Utopien, die ich gelesen habe, waren totalitär. (Thomas Morus Utopia war ja auch schon totalitär sozialistisch. Und auch die Konzepte von Philosophen wie Hegel, Marx und Rousseau hatten teilweise heftige Seiten, die aber von vielen ihrer Anhänger ignoriert wurden und werden. Hegel beispielsweise sagte, für einen "demokratischen idealstaat" müsste dem Menschen erstmal systematisch durch Schule etc. der Wille gebrochen werden. Und der einzige, der sich an dieser Vorderung störte, war Max Stirner, der quasi gesagt hatte, man könne und solle die Menschheit nicht durch Gewalt und Demütigungen zum Guten zwingen.) Deshalb hatte ich auch früher, wie man am Anfang dieses Threads erkennen kann, Probleme mit dem Thema der Utopie.
Ich lehne die Mehrheit der mir bekannten utopischen Konzepte auch wegen ihrer Freiheitsfeindlichkeit ab, aber ich denke auch, ob ein Buch utopisch gemeint ist, entscheidet sich dadurch, dass der Autor es als Utopie gemeint hatte. Ob ich damit auch einverstanden bin spielt bei dem Thema keine Rolle.
SSJKamui:
Habe ich vor einiger Zeit gefunden. Ein guter Überblick über die großen Klassiker der Utopie, wo auch Schwächen der einzelnen Konzepte erklärt werden. Das bietet also einen "guten Einstieg": http://www.brainworker.ch/Politik/utopien.htm
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