Autor Thema: Fremde eigene Welten  (Gelesen 21578 mal)

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ulimann644

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Antw:Fremde eigene Welten
« Antwort #15 am: 10.04.12, 22:53 »
Einer wird sich ganz sicher noch finden... :andorian
Bin schon gespannt auf die 2. Auflage.

Max

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Antw:Fremde eigene Welten
« Antwort #16 am: 11.04.12, 19:47 »
Schön, danke, ich freu' mich :)

Max

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Fremde eigene Welten
« Antwort #17 am: 06.05.12, 21:24 »
Ich habe mir ein weiteres Angebot für Euch ausgedacht.
In den nächsten Woche werde ich in diesem Thread "Fremde eigene Welten" als Fortsetzunggeschichte veröffentlichen.
In regelmäßigen Abständen gibt es hier also immer ein neues Kapitel Statt einen "großen Block" vor sich zu haben, kann man also schön einzelne kleine Abschnitte lesen.

Aber auch für diejenigen unter Euch, die den Roman schon kennen und sich bislang einfach nichts zu posten getraut haben, wird diese Reihe interessant sein. Nach jedem Kapitel folgt nämlich ein Autorenkommentar, der ähnlich wie bei DVD-Audiokommentaren Hintergründe erklärt. Keine Angst, hier halte ich mich schon zurück, sonst wird dieser Teil länger als das jeweilige Kapitel selbst ;) :D Und Spoiler auf kommende Kapitel werden eigentlich auch vermieden.

Damit zu den Kapiteln gesprungen werden kann, werde ich das Eingangsposting mit Kapitel-Links versehen.

Es gibt also einiges zu entdecken!
Viel Spaß dabei.







Fremde eigene Welten

I


»Herein!«, sagte Ter-Nedden mit fester Stimme.
Der angekündigte Besucher war pünktlich. Von seinem Schreibtisch erhob sich Ter-Nedden nur, um seinem Gegenüber die Hand zu geben. Der Mann, der eingetreten war, trug die Uniform eines Admirals, er war aber mindestens zwanzig Jahre jünger als Reto Ter-Nedden. Er sah sich im Arbeitszimmer um, verglich es unbewusst vermutlich mit dem eigenen. Dieser Raum war etwas kleiner, das Grau der Wände hatte einen Hauch Transparenz, an der einen Seite befand sich eine Sitzgruppe, in der Mitte der anderen konnte eine kleine Statue aus Silber ungestört von anderen Einrichtungsgegenständen ihre Wirkung entfalten. Dieses Zimmer, so stellte der Admiral fest, hatte zumindest einen Vorteil – es befand sich auf der Erde. Erst jetzt, als sich das Fenster der Wand hinter dem Schreibtisch schloss, war der Balzgesang der Vögel nicht mehr zu hören.
»Sie möchte etwas trinken?«, fragte Ter-Nedden und bot seinem Gast gleichzeitig einen Platz an.
Jetzt besah sich der Admiral seinen Gastgeber. Ter-Nedden war groß, verfehlte die zwei Meter aber doch deutlich. Früher mochte er wahrscheinlich eine sportliche Figur besessen haben, doch diese Zeit lag weit zurück. Das graue Haar trug er relativ kurz; den Eindruck aber, Ter-Nedden halte nicht wirklich etwas von Frisuren, brachte der Admiral mit den Stoppeln des Dreitagebartes in Verbindung, die er beobachtet zu haben glaubte.
»Danke. Nein«, beantwortete er die Frage.
Beide setzten sich.
»Wie Sie wünschen. Falls sich das ändern sollte: Etwas herzuschaffen, dauert ja nicht lange.«
Beide schwiegen ein paar Momente.
»Weshalb sind Sie zu mir gekommen?«, fragte Ter-Nedden schließlich. Er stand langsam auf und ging um den Schreibtisch herum. Leicht musterte er den Admiral; er besaß durch die vielen Jahre eine gewisse Erfahrung, nicht nur im Beobachten und darin, daraus Schlüsse zu ziehen, sondern vor allem in der Fähigkeit, seine Blicke nicht zu forschend wirken zu lassen. Ein paar Vermutungen hatte er jedenfalls bereits.
»Seit wann sind Sie wieder zurück?«, wollte der Admiral wissen.
»Seit ein paar Wochen. Lassen Sie mich nachdenken. Es sind neun. Etwas mehr als zwei Monate, ja.«
»Und wollen Sie wieder hinaus?«
»Hinaus ins All?«, Ter-Nedden lachte. »Nein«, sagte er fröhlich, setzte aber immer noch heiter hinzu: »Obwohl, wer weiß! Ich kann es mir immer noch gut vorstellen.«
»Wie waren ihre letzten Missionen?«
Ter-Nedden wurde schlagartig ernster. Ihm dämmerte, dass er einer kleinen Fehleinschätzung aufgesessen war. Dennoch begab er sich noch nicht wieder hinter seinen Schreibtisch, sondern setzte sich leicht auf die Tischplatte.
»Wie das immer so ist...«, entgegnete er vage. Es war dennoch eine zutreffende Beschreibung.
»Sie kennen Mark Jonas?«
»Das wissen Sie aus den Akten. Ja, ich kenne ihn«, bestätigte Ter-Nedden. Nun nahm er doch wieder in seinem Sessel Platz. Schmunzelnd fuhr er fort. »Wenn es um ihn geht: Sie wissen, wie das ist. Da kann ich nichts sagen.«
Der Admiral nickte verständig; und doch bereitete er sich vor, nachzuhaken. Dazu konnte es nicht kommen, weil Ter-Nedden in einem fast schon ans Schelmische grenzenden Tonfall wieder das Wort ergriff.
»Nun, da Sie schon einmal hier sind, kann ich nicht doch etwas für Sie tun? Seitdem das xandrinische Fieber vor ein paar Monaten im Typhon-Sektor grassierte, empfehle ich jedem vorsorglich eine Impfung. Das ist schnell geschehen.«
Der Admiral lächelte.
»Nein, Doktor«, sagte er. »Ich bin bereits geimpft.«
Ter-Nedden zuckte spaßhaft mit den Schultern. Die Lüge, die er klar als solche erkannt hatte, machte ihm nichts aus. Schnell wurde seine Miene wieder ernster.
»Sie wollen meine Einschätzung über Jonas? Es gibt doch den Bericht. Da steht ja alles von Bedeutung.«
»Aus medizinischer Sicht.«
»Sicher, dazu bin ich ja da.«
»Es geht nicht nur um den Vorfall selbst, sondern auch um die Zeit danach.«
»Auch dafür gibt es Berichte. Es gibt für alles Berichte.«
»Und aus psychologischer Sicht, Doktor?«
»Die psychologische Sicht ist bei mir auch immer Teil der medizinischen«, sagte Ter-Nedden ruhig. Es interessierte ihn, worauf das Gespräch hinauslaufen sollte.
»Ich wollte persönlich Ihre Meinung hören. Als Arzt sind Sie Ihrem Patienten zuliebe zu Misstrauen verpflichtet. Aber manchmal bewirken Auskünfte auch Positives.«
Lange dauerte die Unterredung nicht mehr. Ter-Nedden wusste genau, was er sagen konnte und durfte, und wann er den Admiral in seine Schranken zu weisen hatte. Als der Doktor das Fenster wieder öffnete, klang das unermüdliche Singen der Vögel wie zuvor. Beinahe hätte sich der Admiral doch noch zu einem Getränk breitschlagen lassen, mit Blick auf die Uhr und noch anstehenden Terminen opferte er es aber einem anderen Ansinnen. Schon fast bei der Tür angelangt, sagte er:
»Wenn ich Sie doch noch etwas fragen dürfte, Doktor: Seit ein paar Tagen verspüre ich ein merkwürdiges Ziehen, das linke Bein entlang...«
Ter-Nedden lächelte.

In den Weiten des Alls lag ein Planet. Man hätte ihn für die Erde halten können; blickte man unvermittelt auf ihn, so wirkte die Größe vertraut, der Abstand zum Zentralgestirn, die Färbung der Meere und der großen Kontinente und deren Verteilung. Mit zartem blauen Leuchten hob er sich von der Finsternis des Weltraums ab wie die viele Lichtjahre entfernte Erde. So vertraut schienen die Formen dieses Planeten, doch wer sie zu ernst nehmen würde, beginge einen folgenreichen Fehler. Je mehr man sich näherte, desto stärker fielen die Unterschiede auf; das satte Türkis der Ozeane und das verwaschene Oliv der prägenden Landmassen – aus dem Kosmos war der Blick darauf nur deswegen so gut möglich, weil beinahe die ganze dem Stern zugewandte Hemisphäre wolkenlos war. Und doch huschten vereinzelt und in scharfen Formen, die, obgleich Produkte der Natur, wie mit geometrischer Genauigkeit gezeichnet zu sein schienen, als Trapeze in den oberen Lagen der Atmosphäre ihre Bahnen. Es mangelte der Erde an diesem Phänomen, sie besaß nichts vergleichbares und wenn der Vergleich misslingt oder gar ausbleiben muss, wird die Differenz unterbunden. Fremdes und Eigenes können verschwimmen.

»Es wurde beschlossen«, begann der Admiral, »Sie in den Stand eines Captains zu erheben.«
Jonas stand auf; obwohl ihm der Gedanke gefiel, sagte er zunächst nichts dergleichen; er ging langsam gen Fenster, sah, ohne die Augen auf etwas zu fixieren, hinaus. Der Admiral war ebenfalls aufgestanden, trat neben ihn und in einer beinahe väterlich anmutenden Geste legte er Jonas die Hand auf die Schulter.
»Nun?«
»Ich hoffe«, entgegnete Jonas, »die Administration hat sich...«
»Das«, fiel ihm der Admiral ins Wort, »wurde mit eingerechnet. Meines Wissens gab es keine Gegensprache, Sie können sich also des vollen Rückhalts sicher sein.«
Noch immer lag des Admirals Hand auf Jonas’ Schulter; dieser empfand es beinahe als störend.
»Wir wissen, dass die letzte Zeit nicht leicht für Sie war. Das, was Ihnen passiert ist, kann eine Person leicht verändern. So was geschieht dort draußen häufig. Wenn Sie so wollen: Sie werden nicht trotz dieses Vorfalls befördert, sondern quasi deswegen.«
»Und dennoch sind seine Folgen noch nicht absehbar«, insistierte Jonas.
»Wir teilen Ihre Einschätzung bezüglich des Risikos nicht, Commander.« Der Admiral ging zurück zu seinem Schreibtisch.
»Es ehrt Sie, dass Sie diese Entscheidung nicht leicht nehmen. Es ist sicherlich ein großer Schritt. Die Verantwortung, die dieser Posten mit sich bringt, ist ungleich größer als alles, was sie bisher erlebt haben. Es wird Momente geben, in denen jeder Captain etwas über eigene Grenzen erfährt und ich kann Sie nur ermuntern, die Sache aus dieser Warte zu betrachten. Die Beförderung ist ein Angebot, Angebote kann man auch ausschlagen.«
Jonas stand noch am Fenster. Er blickte in die Weite.
»Überlegen Sie es sich«, meinte der Admiral.
Aber natürlich hatte Jonas seine Entscheidung schon getroffen.


___


Hintergrund-Informationen zu Kapitel I

Der Einstieg arbeitet mit einem Gegensatz:
Zunächst wird verschwiegen, welche Funktion Ter-Nedden hat. Der Besuch des Admirals legt eher eine Kommandofunktion nahe. Jede klassische ST-Geschichte hat ja einen Captain und so könnte man annehmen, dies sei Ter-Nedden. Aber es ist anders und weil Ter-Nedden, welchen Beruf er ausübt, glaubt er zunächst es wäre diese Funktion, wegen der er vom Admiral aufgesucht wird: Ter-Nedden ist Arzt und glaubt, der Admiral benötige einen Arzt. Die ironische Pointe lautet am Ende des kurzen Einstiegs, dass es dann doch noch so ist.
Dass Ter-Nedden die erste Figur ist, die vorgestellt wird, zeigt, wie wichtig sie ist; dass der Admiral nicht einmal einen Namen bekommt, zeigt hingegen, wie unwichtig er ist.

Die Beförderungsszene Jonas' ist obligatorisch, deutet aber schon einmal ein Geheimnis an. Die Figur wird nicht gerade enthusiastisch beschrieben. Dennoch scheint er ein Mann des Potenzials zu sein: "Jonas stand noch am Fenster. Er blickte in die Weite." [S. 6]
Noch etwas zum Namen: Mark Jonas - der Name des Captains setzt sich aus zwei Vornamen zusammen. Intuitiv baut das die Distanz ab, denn bei jeder Nennung hat man es mit einem Vornamen zu tun, als würde von einem guten Bekannten die Rede sein.
« Letzte Änderung: 06.05.12, 21:47 by Max »

ulimann644

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Antw:Fremde eigene Welten
« Antwort #18 am: 06.05.12, 22:21 »
Ich finde den Ansatz, Personen die in der Folge nicht so wichtig sind, namenlos zu lassen shr gut. Vielleicht, da ich gemeinhin ebenso vorgehe.

Das mit den beiden Vornamen ist ein interessante Sache - leider funktioniert die nicht bei Aliens. Andererseits hat diese Namensgebung auch den (möglichen) Nachteil, dass man weniger Distanz schaffen kann, wo man vielleicht gerne damit arbeiten will (In Einzelgeschichten wohl weniger - für Serien sollte man das aber IMO im Auge haben... Sofern man Augen hat, die groß genug sind... ;))

Der Spannungsaufbau gefällt mir - zuerst das Gespräch ÜBER Jonas - danach erst das Gespräch MIT Jonas...
Lustigerweise besteht hier eine gewisse Parallele zu ICICLE - wo Pasqualina zuerst über Dheran sinniert, und ÜBER Dheran gesprochen wird, und dann erst das Gespräch mit ihm erfolgt...

Die Story gefällt mir bis dahin - die Idee der Erklärung halte ich für gelungen und auch sinnvoll.

Max

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Antw:Fremde eigene Welten
« Antwort #19 am: 09.05.12, 19:52 »
Ich finde den Ansatz, Personen die in der Folge nicht so wichtig sind, namenlos zu lassen shr gut. Vielleicht, da ich gemeinhin ebenso vorgehe.
Ja, ich finde diese Herangehensweise halt wirklich sinnvoll :)

Das mit den beiden Vornamen ist ein interessante Sache - leider funktioniert die nicht bei Aliens. Andererseits hat diese Namensgebung auch den (möglichen) Nachteil, dass man weniger Distanz schaffen kann, wo man vielleicht gerne damit arbeiten will (In Einzelgeschichten wohl weniger - für Serien sollte man das aber IMO im Auge haben... Sofern man Augen hat, die groß genug sind... ;))
Och, der Vorteil geht meiner Meinung nach nicht verloren, denn man hat immer noch Optionen, Distanz zu erreichen. Die passendste Lösung hierfür ist die, die Person nicht beim Namen, sondern bei der Funktion zu nennen; statt "Jonas ging zur Türe" einfach "Der Kommandant ging zur Türe".

Die Story gefällt mir bis dahin - die Idee der Erklärung halte ich für gelungen und auch sinnvoll.
Danke :) :) Weiter geht es (wohl) am Wochenende mit Kapitel 2 :)

Max

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Antw:Fremde eigene Welten
« Antwort #20 am: 12.05.12, 22:08 »

II

Er hatte noch wählen dürfen: von den sechs bislang gebauten Schiffen der Lys-Klasse waren bislang nur zwei vergeben. Jonas nahm die Cœur de Marie.
Das Schiff war mit dreihundertdreißig Metern Länge nicht sonderlich groß, es verfügte mit knapp über hundert Personen über keine stattliche Besatzungszahl, aber es war ein modernes Schiff, das zwar nicht über herausragende Technologien verfügte, für die Mannschaft, die es beherbergte, dennoch gut sorgen würde und den reibungslosen Ablauf unterschiedlichster Aufgaben gewährleisten konnte.
Captain Jonas verbrachte den ersten Abend nach Dienstschluss alleine in seinem Quartier. Bis zu ihrem Ziel würden sie beinahe vier Monate unterwegs sein, so gab es für Jonas keine Eile Schiff und Besatzung kennen zu lernen. Merkwürdig teilnahmslos bewegte sich Jonas an Bord, das fiel ihm auf, als er vom Hangardeck kommend den Lift betreten und in den schmalen langen, in die Kabinenwand eingelassenen Spiegel gesehen hatte. Die Person, die ihm mit starrem Blick dort gegenüber stand, wirkte nicht glücklich. Vielleicht war sie zufrieden, doch auch das spiegelte sich in den Augen nicht wieder. Stattdessen stand dort ein Mann Ende dreißig, normaler Größe und Statur, mit hellbraunen Haaren und bemüht-forschendem Blick grün-grauer Augen. Der Klang, als sich die Lifttüren öffneten, gefiel Jonas. Er konnte sich umwenden und als er im Badezimmer seines Quartiers nur einige Minuten später seinem Spiegelbild das nächste Mal begegnete, war er bereits etwas heiterer in der Gewissheit, das erste Aufeinandertreffen mit sich selbst als tatsächlichen Kommandanten eines Raumschiffs überstanden zu haben.

»Hättest Du fragen können, ob ich an Bord bleiben darf?«
»Aber was brächte das denn?«
Charles Clerke hatte damit nicht gerechnet. Sie kannten einander nun seit beinahe vier Jahren, Zeit genug, wie er meinte, um ein Bild des Charakters einer anderen Person zu bekommen. Er versuchte sich an frühere, ähnliche Gelegenheiten zu erinnern, auf die Schnelle fielen sie ihm aber nicht ein.
»Als zweiter Offizier eines Schiff muss es Privilegien geben«, meinte Claire beinahe empört.
Sie ging ihm auf die Nerven. Er empfand dieses Gefühl als unangemessen, aber verleugnen konnte er es nicht. Vermutlich hätte er sich wirklich dafür einsetzen sollen, seine Verlobte mit an Bord nehmen zu dürfen, dann hätte sich dieses Problem nie ergeben. Er vermutete eine Künstlichkeit hinter ihrem Gehabe, so als spiele sie ihm diese Anhänglichkeit nur vor. Clerke ging sogar so weit, ihr zu unterstellen, sie sage das nun alles nur, weil sie glaubte, man – er – würde das von ihr erwarten. Ein paar Schritte im Korridor und ein paar enervierende Aussagen ihrerseits später äußerte er den Verdacht sogar.
»Lass es einfach auf sich beruhen, Claire. Du musst jetzt genauso wenig hier sein wie vor einem Jahr, oder in einem Jahr, wenn wir verheiratet sein werden.«
Sie lächelte mild, als habe er gar nichts verstanden. Clerke war froh, als sie das Schiff wieder verlassen hatte.

Die Cœur de Marie war nicht sonderlich schnell. Ihre Antriebsleistung ließ sich eher mit Beständigkeit charakterisieren. Auf den ersten Blick mochte sie also für den ihr zugewiesenen Auftrag nicht das geeignetste Vehikel sein, denn es wäre logisch erschienen, für eine möglichst rasche Ankunft auf ein schnelleres Schiff zurückzugreifen. Auf den zweiten Blick konnte sie jedoch einen nicht geringen Anteil dieses Mangels ausgleichen, indem sie in der Lage war, ein anständiges Reisetempo auf Dauer zu halten, statt sich, wie sich der leitende Ingenieur ausdrückte, nach einem halben oder ganzen Tag wie ein erlahmendes Pferd Ruhe gönnen zu müssen. Ein dritter Blick hätte Gepflogenheiten der Administration zutage gefördert, die von einem gewissen Fatalismus zeugten; die großen Distanzen, die zwischen einzelnen bewohnten Planeten lagen, begleiteten die Raumfahrt auch nach der Erfindung des Warp-Antriebs als lästige Herausforderung, die nicht selten mit dem Ruf nach einem gehörigen Maß Eigenverantwortlichkeit aufseiten der Betreibern einer Station beantwortet wurde. In diesem Kontext erklärbar wurde auch die Verzögerung, mit der man auf die mögliche Krise einer recht unbedeutenden, in einem mustergültigen Bereich der Mischung aus weiter Entfernung zur Erde und in sicherem Gebiet der Föderation liegenden Außenposten reagierte.
Die Cœur de Marie war unterwegs, beständig flog sie ihrem Ziel entgegen.


___


Hintergrund-Informationen zu Kapitel II

Der Name des Raumschiffs hat viele Bedeutungen.
Das Empfindungsgemenge, in dem sich Jonas befindet, wird durch den Namen bestärkt. Zusammen mit der Klassenbezeichnung wird klar, dass die Schiffe der Klasse nach Blumen benannt sind, deswegen ist die Wahl Jonas' durchaus bedeutsam: Er, der nicht glücklich zu sein scheint ("Die Person, die ihm mit starrem Blick dort gegenüber stand, wirkte nicht glücklich." [S. 7]), wählt das "tränende Herz". Der Name ist also sprechend. Die deutsche Übersetzung verrät hier also besonders viel. Doch auch das französische Original rekurriert vielsagend auf das Herz.

Clerkes Freundin trägt einen französischen Vornamen und kann sich so auch auf den Schiffsnamen beziehen (denn sie ist hier auch nicht positiv konnotiert). Mit Claire wird erstmals in der Geschichte die Rolle der Frau thematisiert. "Fremde eigene Welten" verfügt über durch und durch patriarchalische Strukturen, wie sich zeigen wird.

« Letzte Änderung: 12.05.12, 22:21 by Max »

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Kapitel III
« Antwort #21 am: 20.05.12, 11:58 »

III

»Computer«, sprach er in sein nur schwach beleuchtetes Quartier hinein; von irgendwo her ertönte zur Bestätigung ein leises Piepsen. Beim Replikator holte er sich ein Getränk und setzte sich, ohne die Lampen im Raum höher zu regeln, so, dass er nach draußen sehen konnte. Die Sterne rasten am Fenster vorbei. »Die Schiff mit dem Namen Cœur de Marie aufzählen.«
»Dieses Raumschiff ist das einzige der Sternenflotte, das diesen Namen trägt. In der Geschichte der Raumfahrt gab es zuvor kein Schiff, dass den Namen Cœur de Marie trug«, berichtete der Computer bar jeglicher lebendiger Intonation. »In der Geschichte der Seefahrt gab es vier Schiffe mit dem Namen Cœur de Marie: Einen französischen Frachter, in Dienst von Zwanzighundertachtzehn bis Zwanzighundertzweiundzwanzig; ein französisches Passagierschiff, in Dienst von Neunzehnhundertfünfzig bis Neunzehnhundertzweiundsechzig; eine französische Fregatte, in Dienst von Neunzehnhundertacht bis Neunzehnhundertzwanzig; ein französisches Segelschiff, in Dienst im achtzehnten Jahrhundert.«
Ihn interessierte nur das letzte.
»Computer: Ich möchte alles über das Segelschiff aus dem achtzehnten Jahrhundert erfahren.«
»Zu diesem Schiff sind keine weiteren Informationen verfügbar.«


___


Hintergrund-Informationen zu Kapitel III

Der Fragensteller bleibt - natürlich - unbekannt. Das ändert sich auch erst am Ende der Erzählung.
Mit diesen Zwischenkapiteln wird die Struktur aufgelockert und ein weiteres Rätsel aufgebaut. Und letztlich geht es um eine weitere Bedeutung des Schiffsnamens.


Max

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Antw:Fremde eigene Welten
« Antwort #22 am: 27.05.12, 12:01 »

IV

»Commander!«, rief Ter-Nedden Clerke hinterher.
»Lieutenant-Commander. Ja, Doktor, was kann ich für Sie tun?«
»Ich dachte, es sei üblich, einen Lieutenant-Commander auf diese Weise anzusprechen.«
»Wenn es sich eingebürgert hat – ich bevorzuge die ausführlichere Variante«, entgegnete Clerke. »Es gibt nur einen Commander an Bord; das muss seine Richtigkeit haben.«
»In Ordnung«, lachte Ter-Nedden. Was er vom zweiten Offizier halten sollte, wusste der Doktor noch nicht. Die wenigen Eindrücke bislang zeichneten das Bild eines verantwortungsvollen Mannes kurz vor dreißig; immer wieder blitzte hinter der zur Schau getragenen Regeltreue aber noch etwas anderes hervor. Ter-Nedden empfand es als eine Erwartungshaltung, erstens sich selbst gegenüber, zweitens aber auch in Bezug auf alle anderen. Das Lachen hatte Clerke dem Doktor jedenfalls nichts übel genommen, seine Mimik blieb entspannt, sodass sich Ter-Nedden noch eine joviale Gestik herausnahm und sein Anliegen vorbrachte.
»Sie werden sicher viel zu tun haben«, begann er und Clerke nickte, »ich war aber – bislang erfolglos – auf der Suchen nach jemandem, der mir eine Führung durch das Schiff geben könnte.«
»Gerne, Doktor«, erwiderte Clerke. »Da Commander Williams allerdings erst morgen eintreffen wird, habe ich zusätzliche Aufgaben übernommen. Einen solchen Rundgang kann ich Ihnen also erst für morgen Mittag anbieten.«
»Der Commander ist noch nicht an Bord?«, wollte Ter-Nedden nachhaken und beinahe wäre dieser Frage noch die Bemerkung gefolgt, dass sich dann momentan sogar kein Commander auf dem Schiff aufhielte, doch Clerke bejahte so knapp und doch energisch, dass sich der Doktor sicher war, darin Spuren eines Vorwurfs gehört zu haben, den er nicht austreten wollte, sodass er hierzu schwieg.
»Morgen Mittag passt mir wunderbar«, sagte er stattdessen, »Wäre Sie so freundlich, mich um zwölf Uhr in meinem Büro aufzulesen?«
Mit dieser Verabredung schieden beide Männer voneinander. Das Schiff auf einige Faust zu erkunden, schien Ter-Nedden nun nicht mehr sinnvoll. Er begab sich lediglich noch einmal zu jenem galerieähnlichen Raum, in den man unweigerlich geleitet worden war, nachdem man das Schiff durch die Luftschleuse betreten hatte. Einige Bilder und Projektionen brachten dem Besucher den Hintergrund des Namens Cœur de Marie näher und dokumentierten die Entstehung der Raumschiffklasse. Dort, in diesem Raum, aber auch auf dem Weg dorthin und später auf den Korridoren, die zu seinem Quartier führten, beobachtete Ter-Nedden noch die neue Crew und verlor sich für den Abend in Einzelgesprächen.

Um Punkt zwölf Uhr des anderen Tages begrüßte Clerke Ter-Nedden mit den Worten, nur wenig Zeit zu haben und den Rundgang deswegen auf einige wichtige Stationen beschränken zu müssen. In Anbetracht der doch recht geringen Größe des Schiffs zeigte sich Clerke jedoch zuversichtlich, dem Doktor auch so einen guten Überblick vermitteln zu können. Sie begannen ihre Tour in der Bugsektion des Raumschiffs. Clerke erklärte, dass der Aufbau der Cœur de Marie mit einigen Standardkonstruktionen brach. Dass der Warpkern schräg im vorderen Teil der Untertasse angebracht sei, läge an der Ramscoop-Anlage, die nicht in die Warpgondeln integriert, sondern vorne an der Untertassenoberseite installiert war. Dadurch sei nicht nur der Deuteriumtank in den Hauptrumpf gewandert, sondern auch der Energiereaktor selbst und in logischer Konsequenz ebenso das Antimaterielager. Über einen Abstecher zum botanischen Garten, am Rücken der Untertassensektion auf Deck zwei gelegen, führte Clerke Ter-Nedden zur Shuttle-Rampe. Sie befand sich in der Mitte des Sekundärrumpfes, an dessen breitester Stelle. Die Beiboote des Schiffs verließen diese Halle, die sich über fünf Decks erstreckte, zunächst zur Seite, würden dann aber durch einen Tunnel nach hinten umgelenkt; so lag die Rampe wie geschützt. Der Sekundärrumpf und in Ebenen gedacht alles unterhalb von Deck sieben besaß lediglich logistischen Charakter: Clerke führte den Doktor durch sich über mehrere Etagen erstreckende, hallenartige Frachträume. Hier fasste Ter-Nedden eine bislang vage Beobachtung in Worte, indem er die immer wieder zutage tretende Eigenschaft des Schiffs pries, trotz seiner geringen Ausmaße immer wieder groß, immer wieder geräumig zu wirken.

   
Die Reise des Raumschiffs dauerte nun schon zwei Monate; nun, zur Halbzeit, hatte der Captain zum ersten Mal zu einer Abendrunde geladen. Von den Gästen – der Doktor, der erste und zweite Offizier, sowie der leitende Ingenieur – stieß Commander James Williams als letzter zu der Runde. Der Captain hatte sich seit Missionsbeginn was den Kontakt zur Crew anbelangt recht zurückgehalten, ein eigentliches Abbild für die Stimmung der Mannschaft konnte wohl am ehesten der Doktor zeichnen, aber entgegen anderer Vermutungen Williams’ war diese Zusammenkunft nicht seine, sondern Jonas’ Idee gewesen.
Schnell wurde indes deutlich, dass das Treffen nicht lediglich eine Gelegenheit darstellen sollte, um sich näher kennen zu lernen, vielmehr warf der Captain schon nach dem ersten Gang ein Thema zur Diskussion in die Runde.
»Was halten Sie nun von dieser Mission?«, meinte er recht unvermittelt und Teil dieses Einstieg war es bereits, niemanden direkt angesprochen zu haben. Hatte er sich vor Stellen der Frage noch einmal umgeblickt, richtete er währenddessen den Blick leicht nach unten; statt es als Emphase der Beiläufigkeit zu werten, hätte man auch Verlegenheit darin lesen können.
Der zweite Offizier, Lieutenant-Commander Clerke, antwortete als erster.
»Ich halte unsere Mission für höchst problematisch!«
»Wieso?« Die Frage kam von Williams.
Clerke positionierte sich, indem er den leeren Teller des ersten Gangs etwas gen Tischmitte schob, sich leicht vorbeugte und, die Ellbogen auf der Tischplatte aufsetzend, die Hände faltete.
»Das ganze Konzept, das unserer Mission zugrunde liegt, ist auf gefährliche Art überkommen. Schon seit Jahrhunderten. Ich halte es für unverantwortlich, auf einem fremde Planeten mit einer derart andersartigen Lebensform eine Kolonie zu errichten.«
»Mit ›andersartig‹ meinen Sie wohl unterlegen?«, hakte Ingenieur Borland nach und der Doktor fügte, langsam und mit innerster Ruhe sprechend, hinzu:
»Denn äußerlich unterscheidet uns nichts von den Bewohnern dieser Welt.«
Clerke hatte sich wieder zurückgelehnt. Er überließ sich nun der Wirkung seiner Worte.
»Hier beginnt bereits unser erster Fehler«, entgegnete er. »Wie kann man von ›Unterlegenheit‹ sprechen, wenn man es mit einem fremden Volk zu tun bekommt?«
»Sie kennen keine Technologie, wie wir sie haben«, erklärte Borland seinen Ausspruch. »Das eindrücklichste Beispiel wäre sicher, das sie gegen unsere Waffen keine wirksame Form des Widerstandes hätten. Sie sind für uns doch vergleichbar mit Indianern oder mit den Insulanern früherer Zeiten.«
»Und doch«, mischte sich Williams ein, »machen wir von unserer Überlegenheit nicht Gebrauch. Commander Clerke, etwas unterscheidet uns doch von den Kolonisten frührer Jahrhunderte: Wir drängen uns nicht auf, die Bewohner dieser Welt kennen bereits Weltraumreisende, unsere Anwesenheit auf ihrem Planeten hat ihre Erlaubnis und der Kontakt, wenn er denn stattfindet, ist nicht nur begrenzt, sondern auch harmlos oder für beide Seiten gewinnbringend.«
»Ich bin der Meinung«, entgegnete Clerke, scheinbar jeden Einwand erwartend, »dass wir immer noch dieselben Fehler wie früher begehen. In erster Linie meine ich damit Wertungen. Aus einer Ethik der Stärke heraus – woher sie für unser spätes vierundzwanzigstes Jahrhundert auch stammen mag – wertet ein Begriff wie ›Unterlegenheit‹ doch ab. Intuitiv sorgt er jedenfalls dafür, dass wir in letzter Instanz nicht bereit sein werden, unsere Möglichkeiten zu ignorieren: Wie sollen wir auch vergessen, dass wir im Fall der Fälle unseren Willen durchsetzen können?«
»Aber unserer Kontakt zu Fremden beruht gerade darauf, dass wir nichts über deren Willen hinweg entscheiden«, entfuhr es Williams.
»Das genügt nicht, Commander. Schon vor Jahrhunderten erkannten Menschen, dass die bloße Anwesenheit eine katastrophale Einmischung bedeutet.«
»Um das zu verhindern«, sprach Ter-Nedden, » haben wir die Oberste Direktive.«
»Ja, Doktor«, sagte Clerke, »und dieses Gesetz der Nichteinmischung wird hier sträflich ignoriert. Es tut nichts zur Sache, dass die Fremden schon Kontakt zu Außerirdischen hatten, bevor die Sternenflotte ihre Kolonie errichtet hat, genauso wenig wie die Siedlungserlaubnis. Denn dass die Fremden die Tragweite einer solchen Erlaubnis nicht absehen können, sehe ich darin belegt, dass selbst wir – mit dem Hintergrund der lange bestehenden Raumflotte und unserer Wissenschaften – das nicht vermögen.«
»Das können Sie nicht beweisen!« Williams Worte zeugten von einer Leidenschaft, die ihn in dieser Diskussion ergriffen hatte.
»Nein, Commander, noch nicht. Aber mit Blick auf unsere Mission: Der Grund dafür, dass sich die Kolonie seit Monaten nicht mehr meldet, könnte genau dieser Beweis sein.«
Einige Momente trat Ruhe ein.
»Sehr gut, meine Herren«, sprach Captain Jonas schließlich; er hatte, nachdem er die Eingangsfrage gestellt hatte, nur noch zugehört und beobachtet, »Der zweite Gang ist da.«

Zur Kolonie gab es immer noch keinen Kontakt, die Crew des Raumschiffs erging sich in Routine; das Ziel war noch so fern, dass sich der Arbeitsalltag an Bord nicht mit den zukünftigen Aufgaben vergleichen ließ. Es war Idee des bolianischen Sicherheitschefs Reev, mit den Mitgliedern seines Teams auf dem Holodeck Übungen durchzuführen, die man unter dem Motto einer Geiselbefreiung zusammenfassen konnte. Jonas ließ ihn gewähren, wohnte dem Training selbst aber nicht bei. Clerke wiederum, der als Stabsoffizier über derlei Vorgänge informiert wurde, besah sich die Szenarien und führte anschließend mit Reev noch gesonderte Analysen durch. So saßen beide auch an einem Abend zwei Wochen vor Ankunft zusammen. Die eigentliche Besprechung zur Aktion und Reaktion der Leute der Sicherheit war bereits beendet, es wäre nun ein Zeitpunkt gekommen, die Unterhaltung lockerer oder persönlicher zu gestalten, doch als habe Clerke diese Eigenschaft schon von seinem neuen Captain übernommen, übte er sich in Reserviertheit, und der Bolianer war für gewöhnlich ohne hin eher ruhig und abwartend. So drehte sich das kleine Gespräch letzten Endes immer noch um den Themenkreis, der die beiden Männer ohnehin hier erst zusammengeführt hatte.
»Aus Ihrer Erfahrung heraus: Wird es Schwierigkeiten geben?«
»Nein«, antwortete Reev leise, es klang fast düster. »Es kann nichts geben, was uns die Einheimischen entgegenhalten können.«
»Aber die Siedler antworten nicht.« Clerkes Ton wirkte leicht provokant, doch er prallte an Reev ab.
»Die Gründe hierfür sind unbekannt. Ich weiß auch nicht, wie die Fähigkeiten der Kolonisten waren.«
»Beamen können wir nicht. Sie kennen ja die atmosphärischen Besonderheiten.«
»Sie haben die Übungen gesehen. Auch ohne den Transporter sind wir mit unseren Möglichkeiten überlegen.«
»Wie würde Sie vorgehen, Reev?«
»Sie haben die Übungen gesehen.«
»Das meinte ich nicht.«
»Ab einem gewissen Zeitpunkt...«, hob er an, doch wurde unterbrochen.
»Und davor?«
»Verhandeln.«
»Was können die Fremden schon von uns wollen? Umgekehrt: Was können wir ihnen schon geben? Oder noch besser ausgedrückt: Was dürfen wir ihnen schon geben? Aber das soll nicht Ihre Sorge sein. Wie würden Sie ab diesem einen, gewissen Zeitpunkt an also vorgehen?«
»Wir sorgen für eine Situation, in der wir eine momentane, taktische Mehrheit besitzen.« Der Bolianer griff die rhetorischen Fragen des zweiten Offiziers nicht auf. »Mit den Phasern auf Betäubung erhalten wird schnell die Oberhand, können die Kolonisten befreien und den Planeten verlassen. Sie haben die Übungen gesehen, das wir das schaffen, steht außer Zweifel.«
Clerke nickte geistesabwesend.

Ter-Nedden stütze sich mit dem Handgelenk auf dem Geländer ab. Leicht hätte man den Eindruck gewinnen können, dies wäre ein Zeichen von Kraftlosigkeit. Tatsächlich fühlte sich Ter-Nedden inzwischen wirklich etwas alt. Wie er so von der Galerie herabsah, in die leichte Dämmerung der botanischen Anlage, und die junge Frau an einem der künstlichen Gewässer beobachtete, kamen Erinnerungen an vergangene Abenteuer. Das Mädchen verschwand, Ter-Nedden verharrte in seiner Position; über Minuten, denn zum Nachdenken gab es immer viel.
Er hatte bemerkt, wie sie neben ihn getreten war, reagierte aber nicht gleich. Sie stand vielleicht zwei oder drei Meter von ihm entfernt, zuerst ihm zugewandt; als sie sich ihm gleich auf das Geländer stütze, sprach Ter-Nedden leise vor sich hin.
»Ich war hier noch nie am Abend.«
Sie schwieg, so fuhr er fort.
»Ich fand es hier von Anfang an schön. Ich glaube, hier her werde ich kommen, wenn ich mich mal unwohl fühlen werde. Ja.«
Da das alles nichts brachte, entschloss sich der Doktor, direkter auf sie einzugehen.
»Wir sind uns doch auf dem Gang erst von ein paar Tagen begegnet.« Es war kaum eine Frage.
»Ja, das stimmt wohl.«
»Erlauben Sie einem alten Mann, sich zum Charmeur aufzuspielen: Sie sind mir besonders aufgefallen.«
»Danke«, entgegnete sie, ihr Blick war nicht schüchtern.
»Nun«, fuhr er fort, in einem allzu unbedeutenden Tonfall, der gar nicht mehr recht auf sein Gegenüber zugeschnitten zu sein schien, »darin, charmant zu sein, bin ich gar nicht geübt. Ich muss Sie bitten, mir zu verzeihen. Jetzt erst erkenne ich, wie schön Sie wirklich sind. Das, was mir vor ein paar Tagen, bei unserer früheren Begegnung, aufgefallen war, das war etwas anderes.«
Er überlegte einen Moment, ob er sich wegdrehen und wieder in den Garten hinabblicken sollte. Das wäre indes die Art der Unhöflichkeit gewesen, die er nun wirklich nicht erreichen wollte, obwohl er dennoch Gefahr lief, auch mit seiner eigentlichen Intention diesen Eindruck zu vermitteln. Auch ohne dass er sich von ihr abwand, tat sie ihm den Gefallen, nicht darauf zu warten, dass er von selbst fortführe.
»Was ist Ihnen denn damals an mir aufgefallen?«
Er schnaufte durch, fast so als trage er eine gewisse Sorge mit sich herum, doch noch während er so ausatmete, begann ein leichtes Lächeln seine Lippen zu umspielen und dem Ausdruck damit die Schwere vollends zu nehmen.
»Wissen Sie, über fünfzig Jahre bin ich nun schon Mediziner auf Sternenflottenraumschiffen. Und wenn ich so zurückdenke, an meine ersten Jahre, an meine ersten Flüge – und wenn ich mir die Leute jetzt anschaue, vor allem die jungen Leute... Ich weiß, dass ich damals sehr aufgeregt war; dass ich damals nervös war. Aber heutzutage scheint das niemand mehr zu sein.«
Sie sah ihn an, nicht mehr als eine Sekunde verging, in der sie noch zu überlegen schien, sich dann aber zu einer Antwort entschlossen hatte; gerade hob sie dazu an, da sprach er schon wieder.
»Ja, Sie wirkten auf mich so sympathisch, weil ich – es war ja nur ein Moment – in Ihnen glaubte, irgendetwas von diesen jungen Mediziner von damals wieder gefunden zu haben.« Nach einer geschickten Pause fügte er hinzu: »Entschuldigen Sie diese wirren Gedanken eines Alternden.«
»Nein, nein«, entgegnete sie nun, recht energisch, damit Ter-Nedden nicht wieder das Wort erheben konnte, »Ihr Eindruck war schon richtig. Seit ein paar Tagen bin ich wirklich etwas nervös.«
Er lachte.
»›Etwas nervös‹? Der junge Mediziner hatte damals wirklich Angst«, meinte er fröhlich. Von ihr wich die Anspannung mehr und mehr.
»Was für eine Aufgabe haben Sie an Bord dieses Schiffs?«, fragte er.
»Steueroffizierin. Ich bin eingeteilt, das Shuttle-Schiff zu fliegen, das die Expedition zur Oberfläche bringt.«
»Wegen des Flugs selber werden Sie nicht aufgeregt sein«, spekulierte er, »und vielleicht außerirdisches Leben zu Gesicht zu bekommen, ist ein guter Grund, aufgeregt zu sein.«
»Aber was mit den Kolonisten geschehen ist, wissen wir nicht.«
»Das stimmt«, versetzte er, so als sei dies ein rein akademisches Thema. Er merkte aber, dass es ein heikler Punkt werden würde, spürte, dass nach Drehen und Wenden die Sorgen der jungen Frau womöglich eher noch vermehrt werden würden und so entschied er sich für die reine Zuversicht, die in noch aussichtloseren Situationen ihre Berechtigung hat. »Aber es wird schon alles gut gehen«, fügte er also phrasenhaft hinzu. »Meine Erfahrung sagt mir nämlich auch, dass sich die Sorgen am Ende als unbegründet herausstellen, die zur Vorsicht führten. So viele Gedanken, wie Sie sich gemacht haben, werden Sie sicher nichts leichtsinniges anstellen. Und unser Captain macht mir auch nicht den Eindruck, sich unbedacht in Abenteuer stürzen zu wollen.«
Sie atmete hörbar durch; auch sie mochte diesen Ort. Ein paar Sekunden standen sie noch schweigend beieinander, dann verabschiedete sie sich von Ter-Nedden.
»Waren Sie schon in der Aussichtslounge auf Deck fünfzehn?«, meinte sie, als sich schon die Tür hinaus in den Gang geöffnet hatte; das Licht draußen war zwar auch bereits abgedunkelt, dennoch so hell, dass ihr Körper nur als Schemen zu erkennen war. Sie trat noch einmal hinein in den Raum, so als sei es ungehörig, in den dunklen Dschungel zu rufen.
»Nein.«
»Das lohnt sich aber auch!« versetzte sie und schließlich: »Gute Nacht«. Sie machte kehrt, um tatsächlich zu gehen.
Er sah ihr noch ein wenig nach, ehe er sich zum Geländer zurückbeugte. Nur noch einzelne Lichter glommen, in der unteren Etage an den Wegführungen; es war Nacht. Gerade hatte das Belüftungssystem mit der Simulation eines leichten Windes begonnen, die Blätter der Bäume raschelten.
›Wahrscheinlich werde ich wirklich alt‹, dachte er bei sich, ›denn das hat sie kein einziges mal bestritten.‹
Der kurze Anflug von Eitelkeit amüsierte ihn jedoch mehr, als dass er sich wirklich getroffen fühlte. Mit gewisser Gelassenheit horchte er in die Dunkelheit und dachte bereits schon wieder über etwas anderes nach.

»Wir werden«, begann Jonas seine Rede vor der kleinen Versammlung der Offiziere, »zunächst die Station aufsuchen. Falls wir aus dem Orbit heraus Kontakt zu den Kolonisten herstellen konnten, vergewissern wir uns, dass die von ihnen gemachten Angaben zutreffen.« Der Leiter der Sicherheit Reev wollte an dieser Stelle etwas sagen, doch der Captain sprach, obgleich er es bemerkte, weiter. »Erscheint es uns dann notwendig, die Siedlung der Einheimischen aufzusuchen, werden wir das machen; falls nicht, nicht. Ist es uns nicht möglich, Kontakt zu den Einheimischen aufzunehmen, werden wir sie mit den Sensoren suchen. Ich gehe davon aus, dass Sie alle Mister Clerkes Bericht gelesen haben; eine Schicht der Atmosphäre besteht aus rasch zirkulierenden, geladenen Partikelchen, die ein Wetterphänomen ähnlich uns bekannter Wolken hervorrufen und gleichzeitig dafür sorgen, dass wir den Planeten nur mit dem Shuttle erreichen können. Es ist allerdings davon auszugehen, dass es für die Sensoren zur Erfassung von Lebenszeichen keine Einschränkung gibt. Falls wir die Kolonisten also auf diesem Weg finden, suchen wir sie dort auf, wo sie sich aufhalten. Der Kontakt mit unseren Leuten ist wichtiger als das Gebot, den Kontakt mit den Einheimischen zu meiden. Treffen wir die Kolonisten nicht an – das bedeutet: finden wir über den ganzen Kontinent keine Spuren von ihnen – suchen wir die Siedlung der Einheimischen auf und befragen sie.«
Hier machte der Captain eine Pause. Reev, der geduldig gewartet hatte, beobachtete die anderen Herren, die sich am Tisch befanden. Ter-Nedden blickte heiter, fast als sei er gedanklich bei etwas anderem, Clerke und Williams saßen an der jeweils anderen Seite des Captains; sie schwiegen, schienen auch zu beobachten. Der Ingenieur Borland hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt, wirkte in dem Sinne passiv, dass er nichts direkt in die Versammlung einbringen wollte, sondern seine Aufgabe vielmehr in der Unterstützung oder Ausführung der Aufgaben anderer sah. Die Hand seines ausgestreckten rechten Arms reicht gerade an das in den Tisch eingelassene Computerbedienfeld heran. Er würde, falls notwendig, schnell Eingaben tätigen können. Nun, da die Sprechpause schon mehrere Sekunden andauerte, brachte Reev den Aspekt ein, der ihm zuvor eingefallen war.
»Sie erwarten ein unaufrichtiges Verhalten der Kolonisten?«, fragte der Bolianer.
»Ich möchte es nicht ausschließen«, entgegnete Jonas. Er begleitete diese Worte mit einigen Handbewegungen, die auf eine Weise lässig wirkten, als wolle er damit zum Ausdruck bringen, dass dieser Teil der Angelegenheit, unabhängig von der Konsequenz, die sich ergeben würde, gar nicht von entscheidender Bedeutung sei. Mit ruhiger Stimme sprach er weiter:
»Wir wissen nicht, zu welchen Verflechtungen es auf dem Planeten gekommen sein könnte. Die Motivation, zu schweigen«, er spielte auf lange Sendepause der Kolonisten an, »kann genauso viele Hintergründe haben, wie die, uns nicht die Wahrheit zu sagen.«
»Ist das nicht etwas weit gedacht?«, warf der Commander ein. Schnell hafteten die Blick aller anderen auf ihm. »Die Station ist abgelegen. Eine ›Motivation‹, wenn Sie so wollen, kann schlicht ein defekter Sender sein, der mit den Möglichkeiten vor Ort einfach nicht repariert werden konnte.«
»Sie haben Recht, Mister Williams«, gab Jonas zu. »Aber es geht hier und jetzt noch nicht darum, ein Ergebnis zu definieren. In den Wochen des Anflugs mussten wir untätig bleiben und das nur aus dem Grund, weil wir über die lange Verbindung nur ein Mittel der Aktion gehabt hätten, das der Kommunikation. Es blieb uns leider verwehrt. Was wir jetzt erreichen können, ist, ein klares Vorhaben zu benennen und uns der Eventualitäten bewusst zu werden.«
»Was könnte die Kolonisten denn bewegen, sich – im Falle der bestehenden Möglichkeiten dazu – einer Kontaktaufnahme mit uns zu verweigern?«, fragte Ter-Nedden in einem Tonfall, dessen Naivität etwas gekünstelt wirkte.
Der Captain wollte antworten, weil er einerseits durchaus mehrere Szenarien dafür erdacht hatte. Allerdings missfiel ihm die Vorstellung, mit diesem Beispiel zu sehr das Zeichen zu geben, freies Spekulieren sei an dieser Stelle erwünscht. So schwieg er, ein anderer nahm das Wort.
»Ein Druck von Innen oder von Außen.« Es war Borland.
»Genauer!«, meinte Williams fast harsch, nicht nur neugierig klingend.
»Die Einheimischen könnten sie zu falschen Aussagen zwingen«, antwortete Reev anstelle Borlands. »Vielleicht gibt es Geiseln.«
»Und womöglich haben die Kolonisten – oder zumindest einige von ihnen – eine Grenze im Kontakt zu den Einheimischen überschritten, die nach der Obersten Direktive nicht überschritten werden hätte dürfen. Diesen Übertritt nun könnten sie zu kaschieren versuchen«, ergänzte Ter-Nedden aus einem spontanen Einfall heraus.
Es war dies nun der Zeitpunkt, an dem sich die zuvor im Rahmen des Abendessens geführte Diskussion zu wiederholen drohte. Lieutenant-Commander Clerke schaltete sich sofort mit ein, doch der Captain ließ ihn diesmal nicht gewähren.
»Es ist ja das Problem an dieser Konstellation, dass die Oberste Direktive per Definition ausgehebelt wurde! Das schafft die Räume, in denen Sicherheit im Umgang mit...«
»Genug.«

Die kleine Versammlung löste sich auf; auf dem Gang sorgte Jonas mit einer schlichten Handbewegung noch dafür, dass der Ingenieur nicht wie die anderen sofort auf seinen Posten zurückeilte.
»Mister Borland«, sprach der Captain dann, »versuchen Sie bitte einen Weg zu finden, um den Beam-Transporter für diesen Planeten einsetzbar zu machen.«
»Nun...«, begann Borland eher zögerlich.
»Gibt es ein Problem mit diesem Befehl?«
Erst nun begriff Borland, dass es sich bei dieser Anfragen um mehr als eine bloße Erkundigung gehalten hatte.
»Das nicht.«
»Aber?«
»Der Effekt, der Beamen durch diese Atmosphäre verhindert, ist in dieser Form schon seit Jahrzehnten bekannt, das grundsätzliche technische Hindernis sogar schon seit annähernd hundert Jahren.«
»Ja. Und nun, Mister Borland?«
Leicht hätten Jonas’ Worte als scharfe Replik, als bloßstellender Sarkasmus aufgefasst werden können, aber zum einen war Borland vergleichsweise auf geradezu naive Art immun gegen solche verbalen Angriffe und zum anderen hatte es der Captain auch verstanden, genau diese Brisanz nicht entstehen zu lassen. Er sprach in solchen Situationen meist so gleichmütig, dass – und dies bedeutete Segen und Unannehmlichkeit zugleich – jedwedes Gegenüber kaum darüber nachdachte, was der Captain wohl in diesem Moment für Hintergedanken hegte. Borland jedenfalls sah sich hierin nicht veranlasst, seinen Status als leitender Ingenieur an Bord zu rechtfertigen.
»Ich glaube nicht«, entgegnete er, »dass ich dieses Problem nun plötzlich lösen kann.«
Des Captains Antwort, eigentlich nichts mehr als eine weitere Frage, indes traf ihn unerwartet; sie war so schlicht, dass sie sofort überzeugte.
»Was spricht dagegen, es zu versuchen?«
Borland wurde von einer irritierenden Verlegenheit ergriffen. Er nickte, rieb sich mit der Hand mehrere Male über den Nacken und verschwand. Jonas sah ihm noch ein paar Momente nach. Er war ein guter Ingenieur, das wusste Jonas aus den Akten, das Problem mit dem Transporter würde Borland allerdings wirklich nicht lösen können.
Hinter der nächsten Korridorbiegung hatte Doktor Ter-Nedden dem Captain aufgelauert. Wie als hätten sie denselben Weg, ging er ein paar Schritte neben ihm her, ehe Jonas das Wort ergriff.
»Gibt es noch etwas, Doktor?«
»Ja.«
Da sie immer noch gingen, der Doktor aber keine Anstalten machte, weiterzureden, hielt Jonas an. Erst jetzt sprach Ter-Nedden, in einem Tonfall, den nur er zu beherrschen schien: Unaufgerecht, selbstverständlich, naiv hüpften die Worte zusammen zu trügerischen Sätzen.
»Mir ist das erst heute aufgefallen«, begann er, »in der Besprechung. Warum hast Du mich bei dieser Mission dabei?«
Es fiel Jonas nicht gleich auf; er ordnete gerade seine Gedanken zur Antwort, ein Prozess, der in der Reflexion oft und gerne als lange wahrgenommen wird, in Wahrheit aber vielleicht gerade einmal eine Sekunde einnimmt; und am Ende dieser Sekunde wurde er der Tatsache gewahr, von Reto Ter-Nedden geduzt worden zu sein. Er war verblüfft, ein weiterer Augenblick verstrich, der Doktor sprach bereits weiter.
»Man hatte mich übrigens gefragt, ob ich noch mal ins All möchte, das weiß ich noch.«
»Wie lautete Ihre Antwort?«
»Das weiß ich nicht mehr. Wirklich: Ich kann mich nicht mehr recht daran erinnern. Das Alter! Ich weiß aber, dass diese Frage kam und heute ist es mir aufgefallen: ›Warum sitzt Du eigentlich hier?‹...«
»Ich habe Sie angefordert«, sagte Jonas.
»Wirklich: Sie haben mich angefordert? Das ist gut. Ja, das ist gut.«
»Sie waren damals dabei«, erklärte Jonas. Er wusste, dass Ter-Nedden bei ähnlichen Begründungen gewöhnlich abwinkte, dennoch führte er dieses Argument jetzt ins Feld, weil es bei seiner Mannschaftsauswahl tatsächlich eine Rolle gespielt hatte. »Wenn etwas passiert, wissen Sie am ehesten, was zu tun ist.«
Die Reaktion Ter-Neddens überraschte den Captain, denn diesmal kokettierte dieser nicht mit angeblich auch nur begrenzten Fähigkeiten und Kenntnissen.
»Schon gut«, sagte er stattdessen knapp. »Ich wollte nur nicht, dass es anders war.«
Sie beließen es bei diesem Satz als Abschluss ihrer Unterhaltung, Jonas wollte ihn gar nicht tiefer verstehen. Ter-Nedden war auch froh darüber. Er hätte gewiss noch rhetorische Finten erdenken können, die ihn davor bewahrt hätten, die Wahrheit aussprechen zu müssen und doch glaubte er, Jonas besäße eine Art Recht darauf, die Befürchtungen, die Ter-Nedden besessen hatte, zu erfahren. Wahrscheinlich, so zog der Doktor für sich als Fazit, ahnte der Captain sie ohnehin. Ter-Nedden hatte sich an das Gespräch mit dem Admiral erinnert und war an diesem Tag, bei dieser Besprechung, vom beunruhigenden Gedanken eingeholt worden, die Admiralität habe Jonas nur unter der Auflage befördert, dass ihm er, Ter-Nedden, wie ein Aufpasser zur Seite gestellt werden würde.
Immer noch leicht beunruhigt betrat der Doktor die Krankenstation.
In wenigen Stunden würde das Schiff die Kolonie erreichen.


___


Hintergrund-Informationen zu Kapitel IV

Bereits bevor Williams an Bord kommt, wird er "problematisiert". Sein Konflikt mit Clerke ist jedenfalls schon angelegt.
Die Vorstellung des Schiffs erfüllt weitestgehend gängige Konventionen. Allerdings zeigt sich auch, wie das Schiff ein Position zwischen Althergebrachtem und Neuartigem einnimmt.

Das Essen der Offiziere macht die Fronten endgültig klar. Erstmals kann aber auch etwas über den Führungsstil des jungen Captains in Erfahrung gebracht werden.

Die Szene im Garten verdeutlicht wiederum den Geschlechteraspekt: Mit der jungen Pilotin tritt die einzige wiederkehrende Frau (von Jumi, die ein Kapitel für sich ist, abgesehen) in Erscheinung. Zwar erfahren wir ein wenig über sie, in erster Linie geht es um Ter-Nedden. Letztenendes bleibt sie aber austauschbar, es fällt nicht einmal ihr Namen. Im Zuge des Patriarchatmotivs dient sie dann eher als Spiegel männlicher Eitelkeit (auch wenn diese schnell ironisiert und relativiert wird: "Mit gewisser Gelassenheit horchte er in die Dunkelheit und dachte bereits schon wieder über etwas anderes nach." [S. 19]).

In der folgenden Besprechung taucht der Begriff "Verflechtung" [S. 20] nicht zufällig auf. Denkt man an die Kulturverflechtung im Rahmen des Kolonialismus hat man bereits eine Art Vorahnung, wozu es kommen konnte oder kommen könnte.

Die Worte, die Ter-Nedden und Jonas wechseln, beziehen sich wiederum auf das Geheimnis, das beide verbindet. Das, was in dieser Unterhaltung nebulös angesprochen wird, hat durchaus große Bedeutung für die Beziehung, in der Jonas und Ter-Nedden zueinander stehen. Letztlich hat das auch etwas mit einem Gefühl der Unsicherheit zu tun, mit dem Ter-Nedden die Beförderung Jonas' womöglich betrachtet.

« Letzte Änderung: 27.05.12, 12:06 by Max »

Max

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Antw:Fremde eigene Welten
« Antwort #23 am: 03.06.12, 11:40 »

V

Die unablässigen Rufe blieben von der Station unbeantwortet. Aus dem Orbit scannte man nach den Lebenszeichen der Kolonisten; dass man sie nicht fand, war zwar als Anzeichen in eine bestimmte Richtung unumdeutbar, aber auch nach vier Stunden Sensorenarbeit konnten Fehler in der Untersuchung schließlich doch nicht ausgeschlossen werden. Borland beschrieb die Interferenzen in der Atmosphäre als besonders stark, Clerke fand riesige, in den bisherigen Berichten über den Planeten bislang so nur am Rande erwähnte Kelbonit-Adern, die für Störungen sorgten. Eine Sonde wurde abgeschossen; während sie in die niederen Luftschichten der Planetenhüllen eintrat, analysierten die Spezialisten an Bord des Raumschiffs den Zustand der Kommunikationsbojen. Testsignale erreichten ihr Ziel und wurden zurückgeschickt, ohne Intensitätsverlust und Zeitverzögerung. Die Satelliten funktionierten. Ob direkt oder über diesen Umweg und die abgesetzte Sonde – noch immer erhielt das Schiff keine Antwort von der Bodenstation. Borland führte danach einige Versuche durch, die Kommunikationsanlagen direkt mit dem Computer der Station in Verbindung treten zu lassen. Die Ergebnisse dieser automatischen Unterhaltungen stellten der Mannschaft Rätsel auf: Zwar erhielten sie die einfachen Datensätze vollständig zurück und der Computer der Kolonie verschickte auf Anfrage auch Zustandsberichte über die Systeme – wobei von Borland auch positiv vermerkte wurde, dass ein Abgleich der Sicherheitsprotokolle stattfand –, doch Zugriff auf den Speicher, wie auch Logbücher kam nicht zustande. Die Sonde hatte die Station inzwischen mehrere Male überflogen und unterstützte die Eigendiagnose des Stationsrechners mit der äußerlichen Beobachtung, wonach sich die Basis bestehend aus einigen kleinen Nebengebäuden der technischen Versorgung und dem großen Zentralbau, der alle Einrichtungen für die Kolonisten beherbergte, baulich in tadellosem Zustand befand.
Nachdem alle Nachforschungen eine akute Gefährdung auszuschließen schienen, gab Captain Jonas den Befehl für ein Außenteam. Er selbst wollte die Expedition leiten, Clerke und Williams sollten ebenso mitkommen wie Ter-Nedden als Mediziner und Borland als Ingenieur. Reevs Einwände gegen die Abordnung der vier wichtigsten Offiziere wurde von Jonas zwar zur Kenntnis genommen, änderte an der Zusammenstellung indes nichts. Der Bolianer protestierte dahingehend, dass er als Leiter der Sicherheitsabteilung auch Teil des Außenteams sein müsste, um für dessen Schutz zu sorgen, abermals unterlag er aber der Verfügungsgewalt seines kommandierenden Offiziers. So übernahm Reev die Brücke.

Ter-Nedden war vom Aufbau der Shuttle-Rampe immer noch beeindruckt. Er kannte die Einrichtungen dieser Art auf anderen Raumschiffen, hier war es anders. Als die fünf Männer die Liftkapsel verließen, tat sich vor ihnen ein Raum, eine Halle mit fünf Stockwerken Höhe auf. Drei Pendelschiffe standen auf der untersten Ebene in einer Reihe nebeneinander, man bestieg das startbereite mittlere, in dem die Pilotin sie bereits erwartet hatte. Die Rampe lag so im Bauch des Schiffs, dass sie die optimale Raumausnutzung zur Verfügung hatte. Die klassischen Hangartore fehlten. Langsam erhob sich das Shuttle unter dem Einfluss der Anti-Gravitationsaggregate und der Steuerdüsen, schwebte zunächst einige Zentimeter über dem Boden, stieg dann aber immer höher und höher, bis es auf dem Niveau von etwa neun Metern über dem untersten Deck der Halle angelangt war. Dann drehte die Pilotin das Shuttle um neunzig Grad, sodass es gegen die seitliche Hülle gerichtet war. Die Pilotin blickte auf die rechte Wand der Rampe, dort wo sich eine Einbuchtung wie ein großer Schlund befand. Sie lenkte das Shuttle darauf zu, schon übernahmen die automatischen Leitstrahlen die Kontrolle. Das Pendelschiff verschwand in der Ausbuchtung und wurde, immer noch vom Computer der Shuttle-Rampe gesteuert, durch den kleinen Tunnel gen Heck der Cœur de Marie geführt. Es passierte ein Kraftfeld und befand sich plötzlich im freien Raum. Das Öffnen und Schließen der Schotten dieser auf beiden Seiten des Sekundärrumpfs verlaufenden und endenden Durchgänge hatte die Mannschaft an Bord des Shuttles nicht bemerkt; aus dem Hauptraum der Shuttle-Rampe war der gebogene Tunnelverlauf mit den sich öffnenden Toren nicht einsehbar gewesen, jetzt blieb das Raumschiff Achtern zurück und der Blick aus dem Shuttle gehörte dem Planeten allein.
»Wie werden sie wohl sein?«, fragte die Pilotin vor sich hin.
»So schnell, wie man denkt, werden wir das vielleicht gar nicht erfahren«, sprach Ter-Nedden; er hatte sich schon vor einigen Minuten hinter den Sitz des Steuers gestellt, um an der Aussicht, die sich beim Eintritt in die Atmosphäre ergeben würde, teilzuhaben. Sie bemerkte ihn erst jetzt vollends, wandte den Kopf leicht nach ihm um.
»Ich wollte Sie nicht ablenken«, beeilte sich der Doktor zu sagen und fuhr ungerührt fort, nachdem die Ensign ihm den leeren Platz des zweiten Steuermanns der Fähre anbot.
»Es wird sicher spannend, sie zu beobachten. Manche Dinge werden wir schnell verstehen und auch schnell einsehen können. Andere werden wir nur zu verstehen glauben, weil wir sie entweder nicht hinterfragen, oder falsch deuten. Wussten Sie eigentlich, dass gelbe Zähne bei Andorianern als Zeichen von Würde gelten?«
Auf diese Weise erzählte der Doktor weiter. Es waren kleine Randnotizen, eher unterhaltsam als bedeutend, und doch verlor er mit ihnen nie den eigentlichen Zusammenhang aus den Augen. Beinahe hätte er darüber die Konzentration auf das sich vor ihm bildende Schauspiel aus ionisierenden Gasen eingebüßt. Die Pilotin, für die dieser Flug die eigentlich zu erwartende Routine darstellte, konnte des Doktors Erzählungen leicht folgen, der Übergang gestaltete sich ohne irgendwelche Probleme.

Das Shuttle setzte sanft auf. Nach Monaten im All dürstete es allen nach frischer Luft, denn obwohl sie Einrichtungen wie einen botanischen Garten oder Holodecks, die jeden erdenkbaren Ort imitieren konnten, an Bord hatten, mangelte es am Eindruck der wirklichen Natürlichkeit, der Natur als schier grenzenloser Umgebung und nicht nur als kleines, abgekapseltes Habitat oder Virtualität.
»Hier«, sagte Williams lachend und im Scherz, »gehe ich nicht mehr weg!«
Das nur knöchelhohe Gras war meist saftig grün, wie Adern oder auch Flüsse zogen sich auch türkise Halme durch die Landschaft. Das Gelände war leicht hügelig, nicht sonderlich hohe Laubbäume standen in Grüppchen oder Hainen zusammen, in beträchtlichem Abstand zur nächsten Baumansammlung, wie Inseln in einem Meer. Leichter Wind durchwehte das Blattwerk, zu Füßen mancher Bäume wuchsen bis zu mannshohe Pflanzen, deren braune bis schwarze Stängel sich fein ästelten und die an ihren Spitzen violette Blüten trugen. Wurden sie von Böen erfasst, tanzten sie, als handelte es sich um Lebewesen.
Clerkes Blick ging gen Himmel. Die Sonne stand hoch, ihre Wärme war aber nicht unangenehm. Wolken waren keine zu sehen, dafür aber die changierenden Atmosphärenschichten, die den Einsatz des Beam-Transporters unterbanden: Felder quadratkilometergroßer Ausmaße streiften über die Männern hinweg und wann immer sie über die Sonne kreuzten, filterten sie Teile des Lichtspektrums heraus, sodass die darunter liegenden Oberflächenbereiche wie in einer Art Schatten standen. Noch nach Minuten konnten sie sich an diesen Eindruck nicht gewöhnen; er blieb auch dann fremdartig, als der Doktor die Lichtstimmung mit der bei einer Sonnenfinsternis verglich. Immer wieder knieten sie nieder, strichen über das wie nasse Gras, das gerade in einen solchen Schleier gefallen war, richteten sich wieder auf, zeigten den anderen auf die wandernden Flächen in der Höhe hinweisend nach oben und staunten. Vor allem aber standen sie unter dem Bann der Schönheit der Gesamtheit dieser Umweltbedingungen. Nicht weniger als zwanzig Minuten mochten sie so an der Landestelle verbracht haben, ehe der Captain zum Aufbruch rief.

Die Station war verlassen, das sah das kleine Landungsteam schon aus der Ferne. Die Zugangspfade – nicht mehr als kieselige Linien, die recht unwillkürlich in der ansonsten unberührten Natur begannen und zusammen in einem Sternschema zur Basis hinführten – waren vereinzelt bereits wieder von Gräsern überwachsen. Das galt den Männern zunächst als bedeutsamstes Zeichen, auch wenn sie sich nacheinander eingestanden, hierfür auch weniger dramatische Ursachen als das Ende der Kolonie anführen zu können. Wild indes war hier nichts und würde hier auch nichts sein können, selbst wenn die Natur das Areal vollkommen zurückerobern wollte. Der feine Bewuchs war viel zu dezent, seit sie hier waren, erweckte alles eher den Eindruck, Teil eines Parksystems als eines Dschungels zu sein. Dieses Maß, das die Natur in ihren Arten und in deren Ausbreitung einhielt, wirkte beruhigend und doch, da sie sich der Station weiter näherten, auch auf merkwürdige Weise trügerisch.
Der Sensor der Tür reagierte; als Lieutenant-Commander Clerke vor ihn trat, wurde der Kommunikator mit seinem Identitätschip korrekt ausgelesen und nach Verifizierung der Daten wurde die Eingangtür automatisch geöffnet.
Das Foyer – ein Raum mit vielleicht zehn Metern Länge und fünf Metern Breite – war menschenleer, ansonsten aber unauffällig. Sie durchschritten ihn schnell, hinter der nächsten Türe lag bereits die Versammlungshalle als zentraler Ort für Treffen und Absprachen dienstlicher wie privater Natur. Auch sie war leer, so leer und aufgeräumt, als wäre sie gerade erst errichtet worden. Sonnenstrahlen aus dem großen runden Oberlicht fielen auf den blau-pastellfarbenen Teppichboden und die konzentrisch zur Hallenmitte gruppierten, hellgrauen Sitzmöbel. Die an den Wänden stehenden Konsolen erschienen den Betrachtern wie schwärzliches Glas, durchzogen von violetten Linien immer dort, wo das Tageslicht wie gebündelt auf sie fiel. Die Computer waren deaktiviert.
»Ist hier jemand?«, rief Commander Williams in die Halle und die angrenzenden Korridore hinein. Alle lauschten, es blieb aber still.
»Und jetzt?«, wollte der Doktor wissen.
»Wir teilen uns auf«, beschloss der Captain. »Mister Williams, Mister Clerke, Sie untersuchen Quartiere und Lagerräume. Mister Borland, Sie werden das Computersystem und, obwohl Energie vorhanden zu sein scheint, auch die Reaktorkammer überprüfen. Doktor, Sie und ich gehen die Kontrollräume und Laboratorien ab. Berichte erwarte ich in spätestens einer Stunde; wir treffen uns dann hier wieder.«
Alle bis auf Ter-Nedden zückten ihre Tricorder, begannen zum einen mit Scans und riefen zum anderen den Stationsplan auf, um ihre Suchen koordinieren zu können. Nur der Doktor besah sich den Lageplan, der sich in Form einer durchaus kunstvoll gestalteten eingefrästen Silberplatte in einem Sockel genau im Zentrum der Halle befand. Sie gingen los.
Das erste Quartier betraten Commander Williams und Lieutenant-Commander Clerke noch gemeinsam. Es war wie von fremder Hand aufgeräumt, denn sämtliche Kleidungsstücke hingen in den Schränken, das Bettzeug lag beinahe pedantisch gefaltet. Auch hier waren allee Computerdisplays inaktiv schwarz.
»Wir werden hier nichts finden«, urteilte der Commander und verließ den Raum mit dem Hinweis, er werde alle ungeraden Zimmer abgehen. Lieutenant-Commander Clerke blieb noch etwas, öffnete jede einzelne Schrank- und Schublade; erst im Bad fand er als bescheidenes Zeichen von Individualität einen kleinen Bilderrahmen. Zwei junge Frauen lachten ihm aus der Aufnahme entgegen. Er stellte den Fund an die gleiche Stelle zurück und verließ das Quartier.
Lieutenant-Commander Borland hielt sich nicht lang in den eigentlichen Zugangskorridoren auf. Schon nach der ersten Abzweigung verfiel er dem Gedanken, in den sich hinter den Wänden der Gänge befindenden Versorgungsröhren dem Zustand des Computer- und Energienetzwerks der Station auf die Spur zu kommen. Schnell war ein Zugangspanel abgebaut. Immer wieder die Leitfähigkeit an Knotenpunkten prüfend, gelangte der Ingenieur so nach etwa zehn Minuten in den Computerraum. Nur schwach glomm ein Licht an der Decke, aber er dachte sich nichts dabei und machte sich an die Diagnosearbeit.
Captain Jonas merkte schnell, wie fruchtlos die Bemühungen sein würden, einem Kontrollraum mit inaktiven Computern Lösungen für das Rätsel entlocken zu wollen. Noch immer waren sie niemandem begegnet, die immer wieder durchgeführten Scans wiesen darauf hin, dass sich daran auch nichts ändern würde: Ihre Geräte zeigten in der eingestellten Reichweite von einem Kilometer nur fünf Lebenszeichen an. Schließlich brachte der Captain eine der Konsolen zu einem lebendigen Flackern, indem er sie mit der Energiezelle seines Tricorders versorgte.
»Das vegetative Computersystem scheint intakt«, sprach er nur so vor sich hin, da Ter-Nedden sich gerade entfernte. »Aber zum Computerspeicher gibt es keinen Zugriff.«
Der Doktor lief inzwischen die Labore ab. Es schien, als seien einige ethnologische Studien durchgeführt worden, wie aus den handschriftlich vorgenommenen Aufzeichnungen an einer Magnetspurenwand geschlossen werden konnte. Die botanischen Experimente waren, so schätzte der Mediziner, schon vor Wochen sich selbst überlassen worden. Fast beruhigte ihn der Anblick der unter den Glasstürzen eingegangenen, nur noch trocken, braun, verrottet liegenden Pflanzenteile. Sie nahmen des Doktors Meinung nach diesem so perfekt konservierten Gebäude die vollkommene Künstlichkeit.
Captain Jonas hatte als erster in der Sitzgruppe Platz genommen und erwartete die anderen. Achselzuckend gesellte sich Doktor Ter-Nedden zu ihm. Schon ein paar Minuten über der Zeit trafen schließlich Commander Williams und Lieutenant-Commander Clerke ein. Sie diskutierten einigermaßen lebhaft, sodass der Captain hoffte, von seinen beiden Offizieren neue Erkenntnisse erwarten zu können.
»Die Lagerräume«, begann der Commander zu erklären, »sind beinahe leer.«
Lieutenant-Commander Clerke nickte langsam zur Unterstützung, meinte dann erläuternd:
»Obwohl die Kühlaggregate arbeiten, ist der gesamte Vorrat an verderblichen Waren – er war laut Stationsmanifest, das ich noch an Bord eingesehen habe, auf weitere fünf Jahre ausgelegt – aufgebraucht. Gefunden haben wir nur noch Ausrüstungsgegenstände wie Ersatzuniformen, aber auch technisches Gerät wie Scanner.«
»Und die Quartiere?«, erkundigte sich der Doktor unaufgeregt.
»Allesamt leer«, entgegnete der Commander. Er erntete ratlose Blicke des Captains; alles andere als die gegebene Antwort wäre zwar überraschend gewesen, dennoch brachte sie diese Manifestierung des Rätsels nicht voran. Wieder war es der zweite Offizier, der ausführlicher berichtete.
»In keinem der Räume – das gilt auch für die Frachträume – gibt es Anzeichen für Kämpfe oder überstürzte Aufbrüche. Ich bin der Überzeugung, dass auch Sie, Captain, in den Kontrollräumen und Laboratorien kein anderes Bild angetroffen haben.« Er wartete keine Zeichen der Reaktion ab, sondern fuhr gleich fort. »Wir fanden also auch keine Leichen von Kolonisten. Alles scheint in Ordnung hinterlassen worden zu sein. Einige Quartiere wirken seltsam steril: Ich meine damit, dass sie kaum Hinweise darauf geben, dass tatsächlich jemand in ihnen gewohnt hat. In ihnen fehlt das, was die meisten Privaträume auch auf dieser Station normal macht: Schmuck, Andenken, Gemälde. Der Commander und ich sind uns uneins, wie bedeutsam diese Beobachtung ist. Wie sehen die Laboratorien aus?«
»Nun«, holte der Doktor aus, als wolle er eine umständliche Erklärung abgeben. Er stand auf und wanderte während des Sprechens hin und her, und landete dabei immer wieder beim silbernen Lageplan. »Den eigentlichen Forschungskern kann ich nur schwer rekonstruieren. Sein Wohl und Wehe, sein Schicksal ist wohl untrennbar mit den Computerdatenbanken verknüpft. Die Untersuchung der indigenen Kultur, von denen ich nur ein paar Ansätze gefunden habe, war zuletzt wohl bio-soziologischen Charakters. Die untersuchten Pflanzenproben sind ausnahmslos eingegangen. Meiner Kenntnis der lokalen Flora nach zu urteilen, spielen sich die natürlichen Wachstumsprozesse in einem Wechselspiel aus Überfluss – viel Sonne, wohl vor allem in der Nacht häufiger Niederschlag, guter Boden – und Selbstbescheidung – geringe Wuchshöhen, geringer Ausbreitungsradius von Sporen, Samen, Pollen und dergleichen – ab. Daraus würde ich abschätzen, dass die Pflanzexperimente schon seit mindestens einem Monat nicht mehr betreut wurden.«
»Wo ist Mister Borland?«
Die Frage kam wie aus dem Nichts. Tatsächlich war der Ingenieur schon mehr als eine halbe Stunde überfällig.
»Williams an Borland. Bitte melden.« Mehr als ein paar Sekunden zur Antwort wurden ihm nicht gegeben, alle sprangen auf.
»Dort lang«, rief der Doktor, der immer noch beim Lageplan stand und so nur den Blick senken musste, um sich einen Überblick über die Raumanordnung der Station zu verschaffen. Er wies mit einer Bewegung auf dem Korridor, an dessen Ende die technischen Versorgungseinrichtungen lagen. Alle rannten sie nun los, der Doktor bildete das Schlusslicht. Gleichgültig wie immer öffnete sich die Zugangstür zum Computerraum, der Commander rief noch einmal den Namen des Ingenieurs, halb in seinen Kommunikator, halb hinein in den großen Raum mit der riesigen Computersäule in der Mitte. Von der anderen Seite des Kerns kam ein leises Stöhnen, dann ein angestrengtes Krächzen.
»Ja?« Es war die Stimme von Lieutenant-Commander Borland. »Was ist los?«
»Wo sind Sie?«
»Hier oben, auf der zweiten Ebene, im Zugangsschacht.«
Inzwischen hatten alle den Kern umwandert.
»Sie hätten schon lange am Treffpunkt sein sollen.« Commander Williams Stimme klang vorwurfsvoll. Niemand aber äußerte Ärger wie Erleichterung, dass man sich umsonst gesorgt hatte, offen.
»Ich war hier noch nicht fertig. Die Installationen sind schwer zu erreichen. Die Zugänge sind sehr eng, ziemlich unbequem. Ich kann noch nichts endgültiges sagen, aber ich glaube, der gesamte Speicherkern ist gelöscht. An die Sicherheitsspeicherungen versuche ich heranzukommen. Ich habe da aber Zweifel.«
Sie gaben dem Ingenieur noch eine weitere halbe Stunde, die jedoch ergebnislos verstrich. Die Offiziere wollten sich, als sie in die Haupthalle zurückgekehrt waren, wieder wie vorher zur Besprechung zu einer Sitzgruppe begeben, doch Captain Jonas durchquerte den Raum einfach, durchschritt auch das Foyer und trat ins Freie. Die anderen folgten.
»Und nun?«
»Jetzt«, entgegnete der Captain, den Blick über die Landschaft streifen lassend, »gehen wir zur Siedlung der Einheimischen.«



___


Hintergrund-Informationen zu Kapitel V

Das Gespräch Ter-Neddens mit der Pilotin weist ihn als "regulative Kraft" aus. Wie sich nämlich zeigt, verfügt er über Wissen und Erfahrung, das er mit rhetorischen Strategien quasi zur Deeskalation benutzt. Auf diese Weise kann er die Pilotin einerseits beruhigen, andererseits nimmt er den zukünftigen Ereignissen die Bedeutung, obwohl er es gegenteilig ausdrückt ("Es wird sicher spannend, sie zu beobachten" [S. 27] ). Zur Tragik ihrer Figur gehört, dass die Pilotin am Außeneinsatz keinen großen Anteil haben und nur einmal einen Indigenen sehen wird.

Ein besonderer Augenmerk ist auf Commander Williams zu legen. Später aber noch mehr zu ihm.

Die Umwelt wird als äußerst idyllisch beschrieben, dazu gehört aber auch eine gewisse "natürliche Künstlichkeit", denn ohne besonderes Zutun von Menschen oder Indigenen wirkt es, als wandelten die Figuren durch einen Park ("Das nur knöchelhohe Gras war meist saftig grün, wie Adern oder auch Flüsse zogen sich auch türkise Halme durch die Landschaft." [S. 27] ). Befremdung lösen direkter die "Wolken" aus, doch auch hier relativiert Ter-Nedden den Eindruck zumindest etwas ("er blieb auch dann fremdartig, als der Doktor die Lichtstimmung mit der bei einer Sonnenfinsternis verglich." [S. 28] ).

Mit seiner Einschätzung, man werde hier nichts finden, beweist der Commander einen erstaunlichen Durchblick. Tatsächlich ist er am Anfang auf dem Planeten noch nicht vollends der Ignorant.
Der Station ist nicht viel zu entlocken, was der Lösung des Rästels um die verschwundenen Kolonisten dienen könnte. Doch zumindest einen wichtigen Hinweis wird der Captain im Gedächtnis behalten.

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Antw:Fremde eigene Welten
« Antwort #24 am: 10.06.12, 14:04 »

VI

»Warum«, erkundigte sich Williams beiläufig, »überbrücken wir die Distanz nicht mit dem Shuttle?« Es war eine völlig unbedarfte Frage.
»Ein wenig Gehen, wird nicht schaden«, bemerkte der Lieutenant- Commander.
»Wir sollten mit unserer Technologie nicht mehr Aufmerksamkeit erregen als nötig«, meinte der Doktor bar jeglichen belehrenden Tonfalls. Einen Moment blieb er stehen, holte tief Luft, und fügte dann hinzu: »Außerdem ist es unglaublich schön hier. Das ist wie eine Form von Urlaub. Ich sage Ihnen, die vier Kilometer werden schnell vorüber sein.«
Bei ihrem Marsch hielten sie kein einheitliches Tempo. Der zweite Offizier Clerke trat immer wieder einige Schritte zur Seite oder ließ sich zurückfallen, sobald etwas in der Natur seine Aufmerksamkeit erregte; mit dem Scanner zeichnete er die unterschiedlichsten Pflanzenarten und Kleintiere auf, doch stoppten seine Ausreißer die vier anderen Männern nie länger als einige Sekunden. Die wandernden Schatten wurden schnell nicht zu einem gewohnten Anblick aber doch zu einer Erfahrung, die wie eine wohlige Überraschung weniger unerwartet als vielmehr wie herbeigehofft kam.
»Vielleicht wäre es doch besser, wenn Reev dabei wäre...«, sagte Borland. Ter-Nedden ging neben ihm.
»Wie kommen Sie jetzt darauf?«
»Ich meine nur... Hier ist alles wunderbar, und trotzdem gibt uns von unseren Kolonisten keine Spur. Es kommt mir etwas merkwürdig vor, Sie das jetzt zu fragen, immerhin sind wir schon Stunden hier, aber kann es irgendwelche Giftstoffe geben, in der Luft?«
»Nein, ich kann Sie beruhigen, Commander. Die Umwelt hier ist so schön und ungefährlich, wie sie sich gibt.«
Borland nickte. Diese Sorge, die ihn kurz erfasste hatte, war er los. Er dachte noch einmal zurück und musste unwillkürlich lächeln.
»Sie hätten Reev sehen sollen, Doktor! Er war wirklich nicht erfreut. Ich finde, man sah ihm an, dass er sich zusammenreißen musste.«
»Lieutenant Reev ist ohnehin oft sehr streng, mit sich und anderen«, entgegnete Ter-Nedden, sein Blick fiel auf die vor ihm gehenden Männer. Williams und Clerke wirkten nicht, als unterhielten sie sich. »Reev ist schon ein typischer Bolianer, wortkarg, manchmal beinahe schon mürrisch. Ich war ein paar Jahre auf der bolianischen Heimatwelt, müssen Sie wissen. Das ist nun schon... ja, fast ein Viertel Jahrhundert her. Das Gros der Bolianer ist wie Reev, aber hinter der oft distanzierten Art unseres Sicherheitschefs steckt eine große Leistungsfähigkeit. Da bin ich überzeugt.«
»Ja«, erwiderte Borland knapp, so wie ein Wanderer spricht, der angesichts eines zu schnell gewählten Schritttempos außer Atem ist. Die fünf Männer indes gingen langsam.
Immer wieder glaubten sie schließlich, Wege erkennen zu können: Das Gras wirkte auf breiter Spur stumpfer. Hielten sie kurz inne um zu beobachten, schien es ihnen nun, als stünden sie mitten in einem Fluss aus Grashalmen, denn der niedergetretene Rasen zog sich wie ein im Vergleich zum Bewuchs um ihn herum dunkleres Band zwischen Hügelchen als ansteigende Ufer dahin. Dann erblickten sie noch in einiger Entfernung etwas, das wie verwaschene braune Flecken oberhalb des Grüns stand; der Grasfluss führte direkt darauf zu. Sie wurden Stimmen gewahr, doch je näher sie kamen, desto stiller schienen sie zu werden. Als die Männer schließlich die einzelnen Hütten deutlich voneinander scheiden konnten, herrschten um sie herum nur die dezenten Klänge der Natur. Die Behausungen schienen aus Lehm oder einem verwandten Material zu bestehen; im Grundriss meist rund, alle einstöckig. Als die fünf eine Art Hauptstraße betraten, nun endgültig mehr aus staubiger Erde als aus Grasboden, fielen ihnen Gebäude auf, die aus mehreren Räumen aufgebaut waren: Mal standen Rondelle so nah beieinander, dass sie ineinander übergingen, mal waren wie getrennt errichtete Hütten durch einen ebenfalls aus Lehm gebauten, gewölbeartigen, kurzen Gang verbunden. Die Wände waren häufig dunkel, als seien sie noch nass von einem Regenschauer, doch konnte auch gleich neben so einer Hütte eine mit fahlem, trockenen gelben Putz stehen. Regelmäßige Streifen zogen sich an allen Wänden von unten nach oben wie eine schwarze Schnur, die, getränkt in irgendeinem Öl in der Sonne funkelte. Nur etwa zwei Drittel der Hütten verfügten über Fenster; dafür jedenfalls hielten die Männer die offensichtlichen Aussparungen, die von innen jedoch ausnahmslos mit Vorhängen aus krudem Stoff verschlossen waren. Der Doktor bemühte sich, darauf zu achten, ob sich eine dieser Blenden bewegte, wenn sie, die Neuankömmlinge, vorüberschritten, doch es tat sich nichts. Ohne es so verabredet zu haben, hatten die Sternenflottenoffiziere eine Formation gebildet. Der Captain ging voran, links von ihm Commander Williams, rechts Doktor Ter-Nedden. Leicht nach hinten versetzt, folgten Lieutenant-Commander Clerke und Borland.
»Bald sind wir durch«, scherzte Ter-Nedden. Er schien noch einer Zeit zu entstammen, die derartige Kontaktaufnahmen zwar nicht ohne Spannung, aber mit weniger Anspannung vorgenommen hatten. Seine Begleiter waren in dieser Hinsicht Geschöpfe ihrer Gegenwart; keiner antwortete.
Der Weg verbreitete sich, mochte nun schon drei oder vier Meter im Durchschnitt betragen. Sie schritten auf eine Art Platz zu, denn die nun vor ihnen liegende Fläche war, obgleich sie zwei der größten Hüttenanlagen, die sie bislang gesehen hatten, beherbergen hätte können, unbebaut. Hier stand in der Mitte, einer Statue gleich, ein Mann.
Williams ertappte sich bei dem Gedanken, in der Person, der sie sich näherten, durchaus auch einen der von ihnen gesuchten Kolonisten sehen zu können. Tatsächlich glich der Mann, von seiner Größe abgesehen, die zwei Meter ein wenig überragen mochte, einem völlig gewöhnlichen Menschen, ein Mann in den Fünfzigern mit dunkelgrauen Haaren, normaler Kräftigkeit und leicht bräunlichem Teint. Je länger ihn sich der Commander besah, desto mehr geriet er ob der eigenen spontanen Idee ins Grübeln. Er überlegte bereits, ob er sich mit den anderen darüber verständigen sollte, ob es einen der Föderationssiedler geben konnte, dessen Erscheinungsbild diesem Mann glich. Flüchtige Blicke warf er auf die anderen. Clerke sah leer nach vorne, doch er hielt die rechte Hand am Halfter des Phasers. Ter-Neddens Geste war ähnlich, nur bereitete er sich darauf vor, seinen Tricorder zu zücken.
Der Fremde schnaufte laut durch, hob die Arme, die er bisher nach unten hatte hängen lassen, ausgestreckt feierlich an, bis sie beinahe Schulterhöhe erreichten. Clerkes Hand entspannte sich, es war eine Geste des Willkommenheißens.
»Ich«, hob der Fremde mit fester Stimme an, »bin Häuptling Maahzel. Ihr seid Leute von der Föderation?«
Die Frage war in einem Tonfall an die fünf Besucher in Uniform gerichtet worden, der an der Grenze zur bloßen Feststellung lag. Keiner von ihnen hätte überrascht sein dürfen, den Anführer dieser Siedlung in Bezug auf ihr Erscheinen so abgeklärt vorzufinden, dennoch waren es manche unter ihnen.
»Ja, Häuptling Maahzel, das sind wir. Ich heiße Mark Jonas«, hob der Captain an. Er imitierte das Gehabe Maahzels soweit, wie es ihm möglich war, ohne es durch die Übernahme durch ihn als jemandem, dem die Sitten vor Ort fremd waren, zur Karikatur werden zu lassen. Jonas stellte seine Leute nacheinander gesondert vor, wobei er bei allen den Vornamen dazunannte, den Nachnamen indes betonte. Nach einer kurzen Pause hoffte er darauf, dass Maahzel das Heft des Handelns übernehmen würde, doch dieser begegnete den kurzen Ausführungen seines Gegenübers nur mit einem dezenten Nicken.
»Ist es uns erlaubt, uns in Ihrer Siedlung aufzuhalten? Als Gäste«, fragte Jonas so. Wieder nickte Maahzel.
Als sie einer Geste des Häuptlings folgend den Platz, der ihnen nun wie ein Knotenpunkt verschiedener kleiner Straßen vorkam, durch eine andere Abzweigung als die, von der sie gekommen waren, verließen, regte sich im Dorf Leben. Ohne die eigentliche Veränderung wahrgenommen zu haben, blickte der Doktor nun durch lauter geöffnete Fenster, entweder hinein in die dunklen Hütten oder in die freundlichen Gesichter Einheimischer, die, wie ihr Häuptling auch, völlig menschengleich aussahen. So angenehm sich die Aufnahme nun zu gestalten schien, so beklemmend wirkte dieser geheim vonstatten gegangene Wechsel auf Ter-Nedden. Hin und wieder wurden sie bei ihrem Weg durch das Dorf in den Schatten eines der gigantischen Felder getaucht, die hoch in der Atmosphäre umherirrten. Erst nach und nach trafen sie direkt mit weiteren Einheimischen zusammen, auch wenn noch immer zahlreiche verschämt-fröhliche Blicke aus dem Inneren der Hütten auf den Gästen ruhten. Schließlich erreichten sie einen kleinen Platz, er schien wie ein Vorhof für einen größeren auf der linken und eine der größeren Behausungen auf der rechten Seite zu sein. Hier standen eine Handvoll Einheimische, unter ihnen nur eine Frau, doch sie war es, die den Männern von der Sternenflotte besonders ins Auge sprang, sodass sie sich erst nach und nach auf den Mann konzentrierten, der zum Häuptling trat.
Maahzel sprach, mit sonorem Ton in der Stimme:
»Das ist mein Bruder Lhaazel«, er deutete auf diesen Mann, der dem Häuptling äußerlich nur wenig ähnelte. Lhaazel trat einen Schritt nach vorne, machte eine umständliche Geste, die einer Begrüßung gleich kommen sollte, blieb aber ansonsten still. Williams hatte ihn gar nicht wahrgenommen, er schaute nur auf die junge Frau. Maahzel legte seinem Bruder die Hand auf die Schulter, doch die Berührung, so glaubte Clerke, der sich jetzt erst für Lhaazel zu interessieren begann, enthielt nicht nur Intimität, sondern auch Stärke; war es tatsächlich ein Griff gewesen, so dauerte er nicht länger als zwei Sekunden. Maahzel trat nun neben das Mädchen.
»Das ist meine Tochter Jumi«
Lautlos formte Williams mit seinen Lippen den Namen nach, Jumi lächelte und der Commander befand, dieses Lächeln habe ihm gegolten.
Als sei von irgendwo her ein Startsignal gegeben worden, lockerte sich die Gesellschaft nun auf: Nicht mehr in kleinen Gruppen, sondern verteilt standen nun Einheimische und Sternenflottenoffiziere, inhaltsflache Unterhaltungen begannen. So vergingen viele Minuten mit belanglosem Plauschen, einzig Williams schien mit seiner Gesprächspartnerin Sinn aus dem Aufeinandertreffen zu ziehen. Clerke warf hin und wieder tadelnde Blicke in Richtung des Commanders, die dieser aber mit Gleichmut überging. Es war Ter-Nedden, der den Grund ihres Hierseins wieder ansprach. Inzwischen war es dunkel geworden und Maahzel hatte die gesamte Zusammenkunft an einen Platz am Rand des Dorfes geführt, dessen Mitte von einer Kette von Lagerfeuern dominiert wurde. Der Doktor hatte sich gerade, dem Beispiel der Indigenen folgend, auf einen der Steine gesetzt, als Eneeli, eine der Frauen, von denen der Doktor vermutete, sie sei so etwas wie eine Priesterin, ein Gespräch mit ihm anfing.
»Sie sind«, fragte die Einheimische, »ein Kundiger in der Medizin?«
»Ja«, entgegnete Ter-Nedden freundlich. Der Stein war als Sitzfläche bequemer als erwartet. Ohne länger darüber nachzudenken, fuhr Ter-Nedden fort. »Sie werden hier auch einige Mediziner haben, nicht wahr? Unsere Kolonisten hatten auch einen Arzt bei sich.«
Erst ein paar Momente nachdem er die Worte gesprochen hatte, fiel ihm deren Inhalt auf und er bereute, ohne Notwendigkeit auf die Siedler gekommen zu sein. Fast verlegen kratzte er sich über die Schläfe und überlegte, wie er das Thema nun leicht wieder umlenken könnte. Zu seiner Verwunderung war das aber nicht nötig, denn Eneeli sprach darauf zusammenhanglos von den Flüssen und Seen der Region. Zunächst dachte er, sie begänne damit einen Exkurs zu heilkundlichen Ansichten der hiesigen Gesellschaft, doch Eneeli pries die Landschaft in ihm nicht verständlicher Weise und Absicht. Immer länger schweifte der Doktor in Gedanken ab, bis er schließlich – es geschah wie aus Trotz – eine Redepause mit der Rückkehr zum alten Thema beendete.
»Kannten Sie jemanden aus der Gruppe unserer Kolonisten?«
Durch Zufall hatte Jonas die Frage gehört; er wandte den Kopf leicht zu dem rund zwei Meter entfernt sitzenden Doktor um. Sein Blick verriet offene Verärgerung, wandelte sich aber sofort in Aufregung, befeuert durch dieselbe Neugierde, die vorab Ter-Nedden angetrieben hatte.
»Nein«, entgegnete die Einheimische kühl.
Beide waren von dieser Antwort enttäuscht. Ter-Nedden, der sich schnell der Aufmerksamkeit seines Captains gewahr geworden war, sah nun zu Jonas hinüber. Dessen jetzt ausdruckslose Miene galt ihm wie ein stummes Einverständnis, sodass er nachhakte.
»Warum nicht? Gab es keinen Kontakt?«
»Für mich gilt das so«, versetzte Eneeli knapp und schien keine Anstalten zu machen, ausführlichere Auskünfte geben zu wollen.
Wieder sah Ter-Nedden zu Jonas. Der presste die Lippen leicht aufeinander und schüttelte dann langsam den Kopf. Der Doktor schwieg, sah ins Feuer und als er den Eindruck hatte, Eneeli habe sich wieder etwas beruhigt, plauderten sie noch eine Weile über die Schönheit der Natur.
Inzwischen war es finster geworden. In regelmäßigen Abständen hatte Clerke gen Himmel geblickt, gespannt auf das Auftauchen erster Sterne, im flackerndem Schein der Lagerfeuer hatte er aber keine ausmachen können. Irgendwann stand er auf, um sich lediglich ein paar Meter zum Rand des Platzes zu bewegen. Wirkliche Wolken, nicht jene atmosphärischen Felder, waren aufgezogen, das erkannte Clerke nun an den feinen Schattierungen von dunklem Grau bis hin zum Aschschwarz. Da er nun einmal aufgestanden war, ging er langsamen Schritts um die Feuerstellen herum; er wollte das Gespräch mit Captain Jonas suchen. Dieser saß auf einem der Steine und hatte sich schon seit ein paar Minuten aus dem Gespräch mit Maahzel gelöst. Er schaute nun nur noch in die Lagerfeuer hinein, man hätte es fast als verträumt beschreiben können; doch als er sich, vom zweiten Offizier leicht an der Schulter angetippt, umwandte, meinte Clerke etwas Trauer oder vielmehr Melancholie im Jonas’ Blick zu sehen. Leicht zu ihm herunter gebeugt und in einem flüsternden Tonfall fragte er:
»Sir, wie wollen Sie weiter verfahren?«
Jonas stand auf, sodass er, die Stimme leicht senkend, auch davon ausgehen konnte, dass seine Antwort nur von Clerke vernommen werden würde.
»Es ist heute nicht mehr viel zu holen.«

Jumi strich sich immer wieder ihr braunes Haar aus dem Gesicht. Es schien Williams dunklere Strähnen zu besitzen, die er für sich mit den türkisfarbenen Zügen verglich, die das ansonsten grüne Gras durchflossen. Über diesen Gedanken hätte der Commander beinahe die Ansprache seines Captains verpasst.
»In Ordnung, Mister Williams«, sagte Jonas, »Sie bleiben hier. Mister Clerke, haben Sie Einwände gegen den Vorschlag, dass auch Sie zunächst auf der Oberfläche bleiben?«
»Nein, Sir.«
Clerke sah hinüber zu Williams und während sich die restlichen Männer der Sternenflotten auf den Aufbruch vorbereiteten, ließ er den Blick über das nächtliche Dorf schweifen; je weiter die Hütten von der Lagerfeuerstelle entfernt standen, desto stärker sorgten die Lampen, die in ihrem Inneren durch die leichten Vorhänge der Fensterdurchbrüche leuchten, für den Eindruck, dort schwebten Dutzende Laternen.
Obgleich ihnen die Geräte einen sicheren Rückweg zum Shuttle auch in der Nacht ermöglicht hätten, nahmen Jonas, Ter-Nedden und Borland das Angebot eines einheimischen Führers gerne an. Im Gegensatz zu anderen Vertretern des Dorfes, die sie an diesem Tag kennen gelernt hatten, schwieg dieser junge große Mann beinahe den ganzen Weg über beständig, sodass sie nicht einmal seinen Namen erfuhren. Er trug eine Fackel mit sich, machte aber den Eindruck, als brauche er sie gar nicht und leuchte nur den Gästen zuliebe. Die Nacht war ruhig, vereinzelt hörten sie ein paar Pfiffe, die sie schnell geneigt waren, einigen nachtaktiven Vögeln zuzuordnen. Die Flora und Fauna des Planeten hatte einen so idyllischen Eindruck auf die Besucher gemacht, dass sie auch in dieser Dunkelheit, da die Umgebung nicht mehr recht einschätzbar war, ohne Besorgnis voranschritten. Nur Jonas versuchte einige Male über die weiten Ebenen zu blicken und die dichten Haine nach Spuren von Bewegungen oder nach fernem Widerleuchten der Fackel hin zu beobachten. Die meiste Zeit des Weges gingen sie alle hintereinander, sie waren fast am Shuttle angekommen, da unternahm der Doktor noch einmal den Versuch eines kurzen Gesprächs mit ihrem Expeditionsführer. Dazu ging er, die kleinen Lampen der Positionslichter ihres Schiffs auf der nächsten großen Ebene schon im Auge, mit raschen Schritten an die Seite des Einheimischen und bedankte sich für dessen Hilfe. Der Indigene antwortete mit einem kurzen Wort, das der Doktor nicht verstand. Der Klang der Stimme indes war heiter, und so lächelte Ter-Nedden freundlich. Das Licht der Fackel begann zu flackern, immer wieder fielen Gesichtszüge nun für Augenblicke in die Dunkelheit. Es ergaben sich Lücken wie bei einem Film, in dem viele Einzelbilder durch Schwärze ersetzt werden.
Sie waren am Shuttle angekommen, die junge Pilotin begrüßte sie an der geöffneten Hecktüre. Der Einheimische wandte sich noch einmal kurz an Jonas, den er wohl als eine Art Anführer vorgestellt bekommen hatte, hob die freie Hand etwas in die Höhe, sprach Worte der Verabschiedung und verschwand in die Richtung, aus der sie gekommen waren. Alle schauten ihm noch eine Weile nach, am längsten Ter-Nedden. Mit leisen Gesprächen gingen die Pilotin, Borland und Jonas in das Pendelschiff. In den Stunden der Abwesenheit hatte sich an der Landestelle nichts ereignet. Der Doktor verfolgte mit den Augen immer noch den Weg des Einheimischen. Dieser mochte noch nicht einmal einhundert Meter entfernt gewesen sein – die freie Landschaft lag so eben, dass Ter-Nedden die Sicht nicht behindert wurde –, da ging mit einem Mal die Fackel aus. Der Doktor lauschte in die Dunkelheit, doch er hörte nicht einmal mehr die Rufe und das Pfeifen von Vögeln. Schließlich ging auch er in das Shuttle, die Tür schloss sich hinter ihm.
Sie hatten gerade abgehoben, da ging Ter-Nedden vor zum Cockpit.
»Die Aufregung war wohl umsonst«, sagte er in einem merkwürdigen Tonfall, es klang weder nach Schadenfreude, noch nach Mitleid.
»Ja«, lautete die knappe Antwort der Pilotin.
»Machen Sie sich nichts daraus, es werden auch andere Tage kommen.«
Er ließ offen, was er genau damit meinte. Er wollte sich gerade umdrehen, um sich zu den anderen zu setzen, da beobachtete er durch die große Frontscheibe, wie man gerade die Wolken durchflog. So setzte er sich auf den Platz des Co-Piloten und blickte gebannt nach vorne. Für Sekunden hatte man die Wolkenschicht hinter sich gelassen, war aber noch in einer hohen Zone der Atmosphäre, dort, wo die Felder um die Planetenkugel geisterten. Sie zeichneten sich in der Dunkelheit kaum ab, waren wenn überhaupt nur als Schleier in einem kühlen Blauton erkennbar. Wann immer sie über funkelnde Sterne glitten, ließen sie deren ansonsten weißes Licht blau oder violett erscheinen; beim Übergang spalteten sie es sogar in andere Farben des Spektrums.
»Schön«, kommentierte Ter-Nedden den Anblick. Die Pilotin lächelte.



___


Hintergrund-Informationen zu Kapitel VI

Nun hat Williams bereits den Wechsel zum Ignoranten vollzogen. Diese Veränderung geschah wie aus dem Nichts und sie wird durch Clerke mit Wiederaufnahme des Konfliktes zwischen den beiden quittiert.

Anhand der Passage, in der die Figuren in das Dorf gelangen und es durchqueren, kann auch etwas von der Erzählstrategie, die Offensichtliches hinterfragt, gezeigt: Denn die Behausungen sind nicht aus Lehm, sie scheinen aus Lehm zu sein.

Im Dorf entlarvt sich Williams immer wieder: "Williams ertappte sich bei dem Gedanken, in der Person, der sie sich näherten, durchaus auch einen der von ihnen gesuchten Kolonisten sehen zu können." [S. 36] - er vermag nicht mehr zwischen Eigenem und Fremdem zu unterscheiden. Und dann kommt Jumi! Immerhin wird sie die wichtigste Frauenfigur der Erzählung sein.
Am Ende begeht der Captain einen Fehler, indem er Williams auf der Planetenoberfläche lässt.

Das, was man trotz gefühlter Nähe zu den Indigenen nicht weiß, wird gleich problematisiert ("So angenehm sich die Aufnahme nun zu gestalten
schien, so beklemmend wirkte dieser geheim vonstatten gegangene Wechsel auf Ter-Nedden. Hin und wieder wurden sie bei ihrem Weg durch das Dorf in den Schatten eines der gigantischen Felder getaucht, die hoch in der Atmosphäre umherirrten." [S. 37] ).
Viel Gelegenheiten, etwas von sich preiszugeben, erhalten die Einheimischen nicht, wenn sie doch mal eine bekommen, verstreicht sie praktisch ungenutzt ("Beide waren von dieser Antwort enttäuscht." [S. 39] ).


Tolayon

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Antw:Fremde eigene Welten
« Antwort #25 am: 10.06.12, 17:47 »
Schon wieder ein vollkommen menschlich aussehendes außerirdisches Volk, kein Wunder dass die Menschen dabei vielleicht zum naiven Schluss kommen, sie seien die Herren des Universums ;)

Aber die Kommentare am Schluss lassen noch auf ein böses Erwachen "hoffen".
Haben die Einheimischen vielleicht - ähnlich den ebenfalls sehr menschenähnlichen Centauri aus "Babylon 5" - unter ihrer Kleidung eindeutige Unterscheidungsmerkmale, wie ein gutes Dutzend kleiner Tentakel verborgen?

Oder wird der Unterschied noch viel größer sein und ihr Aussehen ist nur eine komplette Maskerade/ Projektion außerdimensionaler Wesen?

Max

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Antw:Fremde eigene Welten
« Antwort #26 am: 11.06.12, 16:24 »
Ja ich sag' einfach mal so: Dass die Außerirdischen hier so menschenähnlich sind, hat natürlich seinen Grund.
Und manchmal braucht es eben etwas anderes als das völlig Fremdartige, das ich beispielsweise in .: "Der Trick" :., wo dann auch die Erkenntnis, wie das außerirdische Leben aussieht, eine der zwei Pointen der Story ist.

Aber zu "Fremde eigene Welten": die Geschichte ist ja auch noch nicht zuende und so wie die Bedingungen sind, ist es schon auch von mir gewollt :)

Max

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Antw:Fremde eigene Welten
« Antwort #27 am: 18.06.12, 19:03 »

VII

Clerke wachte früh am morgen durch das Licht der aufgehenden Sonne auf. Es vergingen einige Sekunden, ehe er sich seiner Lage bewusst wurde; Williams, im Nachtlager links von ihm, schlief noch mit ruhigen Atemzügen. Langsam stand Clerke auf, behutsam, fast so, als bestünde die Notwendigkeit, unbemerkt zu bleiben; tatsächlich verspürte er aber kein Gefühl der Angst. Nach der ersten Desorientierung packte ihn eine merkwürdige Neugierde. Er trat vor die Hütte. Entgegen seinen Erwartungen herrschte im Dorf noch vollkommene Stille. Er holte tief Luft, vor Kälte rauchte der Atem als er ausschnaufte. Gerade einmal zehn Meter trat er von der Hütte weg und besah sich eine Pfütze. In der Nacht musste es geregnet haben. Im unebenen Boden der Dorfwege hatte sich an vielen Stellen Wasser gesammelt, doch bemerkte Clerke mit bloßen Auge das Absickern. Er richtete den Blick gen Himmel. Dort standen noch einige Wolken, doch im Licht der aufgehenden Sonne wirkten sie nicht dicht. Es schien vollkommen klar, dass sie sich binnen Minuten auflösen würden, Clerke erwartete einen heiteren, sonnigen Tag wie er ihn gestern erlebt hat, einzig mit den atmosphärischen Wechselfeldern, die Wolken gleich Landstriche in Schatten tauchen würden. Er ging noch einmal in die Hütte zurück und hinterließ dem noch immer schlafenden Commander auf einem der mitgebrachten Anzeigegeräte eine Nachricht. Erst als er die Dorfgrenze erreicht hatte, nahm er Kontakt zum Schiff auf, um auch dort seine Absicht klar zu machen, einen kleinen Erkundungsspaziergang vornehmen zu wollen. Binnen der ersten Stunde, in der der Lieutenant-Commander ohne lange Pause in konstant langsamen Tempo vor sich hin ging, wurde es spürbar wärmer. Die Feuchtigkeit des Taus und der nächtlichen Niederschläge dampfte. Schon nach etwa einem Kilometer gelang es Clerke nicht mehr, in der Umgebung irgendwelche Spuren des Eingriffs wahrzunehmen; die Natur lag unberührt, als sei nie ein menschliches Wesen hier gewesen. Clerkes Blick wurde unter diesen Eindrücken immer weniger forschend, doch sollte ihn sein unbestimmter Drang, weiter zu gehen, bald zu einer Entdeckung führen.
Commander Williams wurde von einem seltsamen Lärm geweckt. Für einen Augenblick brachte er das Geräusch nicht mit der Wirklichkeit in Verbindung, sondern band es ein in einen lebendigen Traum, der ihn in erregte Stimmung versetzt hatte. So schrak er hoch, als er den Lärm – es erschien ihm wie ein langgestreckter jammernder oder klagender Schrei – zum zweiten Mal hörte. Mit dem ersten wachen Moment war der Inhalt des Traums auch schon vergessen. Binnen Sekunden hatte er sich angekleidet und als der dritte, diesmal grelle Schrei ertönte, griff er bereits den am Vorabend abgelegten Phaser. Er wollte hinauseilen, doch sein Blick fiel auf das von Clerke auffällig drapierte Anzeigegerät, das schwach aber beständig hinweisend leuchtete. Den Text überflog der Commander nur kurz, die Aufregung trieb ihn ins Freie. Die Pfade, die von seiner Hütte zu den anderen führten, waren leer. Ohne sich nach dem Geräusch richten zu können, lief Williams los; nur schwach quietschte es unter seinen Sohlen, denn die ganze Feuchtigkeit war von der Sonne inzwischen entweder verdampft worden oder tiefer ins Erdreich eingesickert. Auf dem Dorfplatz fand er eine Gruppe von vielleicht einem Dutzend Leuten vor, mehr Frauen als Männer. Die Versammlung war gerade dabei sich aufzulösen, Williams bemerkte aber, dass sich zwei Paare noch an den Unterarmen umklammert hielten. Hier hörte er auch noch mal das Rufen und es war ihm unerklärlich, wie er es für dramatisches Zetern hatte halten können, so festlich und lebendig klang es nun. Er dachte darüber noch nach, wollte sich auch einem der Indigenen nähern, um ihn danach zu befragen, da sah er Jumi. Sie stand, fast wie verloren, am Rand der Gruppe. Während inzwischen alle ihres Weges gingen, blieb sie wie erstarrt stehen.
»Jumi«, brachte Williams hervor, als er nur noch ein paar Schritte von ihr entfernt war. Sie nickte fröhlich und ihre Gesichtszüge, die er eben noch als recht matt gedeutet hatte, wurden heiter. Er wollte sie irgendetwas fragen, merkte, dass es ihr ähnlich ging, fand aber nicht die richtigen Ausdrücke. Wortlos gingen sie quer über den Dorfplatz, beinahe hätte er sie, einfach um etwas gesagt zu haben, doch über die seltsame morgendliche Zusammenkunft und das Rufen ausgefragt, als er aber den Blick zur Seite wandte und in ihr schönes Gesicht sah, kam ihm das alles plötzlich vollkommen nichtig vor und die Stille zwischen ihnen erfüllte ihn mit einer unbestimmbaren Freude. Sie lächelte wieder, eines der wandelnde Felder tauchte das Paar in einen düsteren Schatten.
Lieutenant-Commander Clerke hatte sich eben entschlossen, zum Dorf zurückzukehren, da blieb sein Blick an einer Stelle des Horizonts hängen. Eigentlich gab es dort nichts außergewöhnliches, eingerahmt von zwei Hainen beschrieb die Grasfläche aber keine Linie, sondern beugte sich leicht nach unten. Er schätzte, dass er von dieser Stelle noch eine halbe Stunde entfernt war und um den Weg nicht umsonst zu gehen, führte er mit seinem Tricorder einen Scan durch. So schnell war er gewesen, dass er den Ort in weniger als zehn Minuten erreicht hatte. Was ihm aus der Distanz wie eine leichte Senke erschienen war, bildete den einen Rand des in Wahrheit tiefsten Geländeabfalls, den er auf diesem Planeten bisher gesehen hatte. Als er die Böschung hinabblickte, überraschte ihn das Blitzen vieler hundert über die ganze Kuhle verstreut in der offen liegenden Erde steckenden Metallsplitter. Sie reflektierten das Licht der Sonne in einem wärmen Goldfarbton, als eines der Felder hoch in der Atmosphäre zwischen die Strahlen und die Grube glitt, wurde das Funkeln der Fragmente beinahe bläulich.

»Sie wollen wieder mit?«, fragte Jonas.
»Ja«, kam die fast eifrig klingende Antwort des Doktors. Er hatte den Captain im Korridor vor der Shuttlerampe abgepasst. Jonas überlegte, wie Ter-Nedden den richtigen Zeitpunkt erwischt haben mochte, vermutlich hatte er die Absprache mit der Shuttle-Pilotin am letzten Abend mitgehört.
»Gut.«
Sie befanden sich schon auf dem halben Weg zur Oberfläche, als sie das nächste Mal miteinander sprachen. Jonas hatte sich gerade ein Glas Wasser aus der Replikatornische des Shuttles geholt, das ihm als Frühstücksersatz dienen sollte, und sich hingesetzt, als er sein Gegenüber fragte:
»Was erwarten Sie sich von diesem Tag?«
»Die Leute sind freundlich, aber mir scheint, sie wollen uns nicht das sagen, was uns wirklich interessiert.«
Jonas nickte. Langsam nahm er einen Schluck aus dem Glas, Ter-Nedden sprach weiter.
»Da gab es irgendein Problem, das ist für mich sicher. Freundlich sind sie ja, aber direkt unter der Oberfläche ist einiges, was wir nicht verstehen. Da können sie uns noch so ähneln, nicht nur äußerlich, sondern von mir aus auch in den Umgangsformen. Das Problem hängt mit dem zusammen, was wir an ihnen nicht verstehen.«
Einen kleinen Moment schwiegen sie, dann schien es, als sei der Doktor von einem unerhörten Gedanken befallen worden.
»Ja«, sagte er geradezu agil, »ich bin davon überzeugt, dass die Einheimischen etwas mit dem Verschwinden der Kolonisten zu tun haben.«
Jonas nickte wieder, etwas bedächtig und damit nicht so, als wolle er seinem medizinischen Offizier uneingeschränkt recht geben, sondern vielmehr als glaube auch er, dass man zwangsläufig auf diese Idee kommen musste.
»Aber«, sprach der Doktor weiter, »ohne Informationen aus dem Speicher der Station tappen wir im Dunklen...«
Er sagte das in einem Tonfall, der klarmachte, dass das nicht alles war.
»Sie würden sie direkt fragen?«
»Ich weiß nicht«, Ter-Nedden zuckte mit den Schultern. Er lehnte sich verschwörerisch vor. »Sie werden nichts sagen...«
»Das muss nicht sein. Möglich, dass Maahzel eine interne Kommunikation in Gang gesetzt hat, von der wir profitieren könnten«, fuhr ihm Jonas ins Wort.
»Denkbar«, entgegnete der Doktor flüchtig, und setzte dann dort an, wo er unterbrochen worden war, »aber wenn sie uns nichts sagen sollten, können wir versuchen, auch daraus unsere Schlüsse zu ziehen.«
»Ich frage mich, was Mister Williams und Mister Clerke zu erzählen haben«, entgegnete Jonas, als gebe er gar nichts auf die Ansichten Ter-Neddens.
Diesmal landeten sie näher am Dorf, die letzten Meter zur Siedlungen erschienen ihnen aber aus unerfindlichen Gründen mühsamer als am Vortag.



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Hintergrund-Informationen zu Kapitel VII

Williams' Unfähigkeit, zu analysieren, zeigt sich einmal mehr; gleich wird er auch wieder von Jumi abgelegt.
Auch wenn Clerke eine nicht unwichtige Entdeckung macht, bringt dieses Kapitel nicht besonders viel Neues. Und doch wird man aus ihm mit der klaren Andeutung auf eine bevorstehende Gefahr entlassen: "Diesmal landeten sie näher am Dorf, die letzten Meter zur Siedlungen erschienen ihnen aber aus unerfindlichen Gründen mühsamer als am Vortag." [S. 46].

« Letzte Änderung: 18.06.12, 19:10 by Max »

Max

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Kapitel VIII
« Antwort #28 am: 23.06.12, 11:42 »

VIII

»Wo ist Mister Williams?«, wollte Jonas wissen. Der Häuptling schwieg.
»Ich habe ihn heute noch nicht gesprochen«, entgegnete Clerke leise. Er stand dicht am Captain, wandte den Kopf beim Sprechen aber kaum zur Seite, sondern fixierte Maahzel wie Jones mit seinem Blick unablässig. »Als ich heute morgen aufstand, um eine kleine Erkundung durchzuführen, schlief er noch. Ich habe ihm eine Nachricht hinterlassen.«
Jonas nickte nicht einmal. Als er erkannte, wie eindringlich aber auch misstrauisch sein Augenspiel auf den Häuptling wirken konnte, zwang er sich ein leichtes Lächeln ab und drehte sich etwas zur Seite, weg auch von Clerke. Er berührte seinen Kommunikator.
»Captain Jonas an Mister Williams.«
Nur Stille antwortete ihm.
Beim Nachdenken huschten seine Blicke über den Boden, zuerst ganz flüchtig, dann fielen ihm unvermittelt Einzelheiten auf. Der Untergrund war staubig, nur einzelne Grashalme trotzten hier der Unbill ihrer Existenz. Jonas schüttelte begleitet von einem fast schon zischenden Ausatmen den Kopf. Er drehte sich wieder zu Maahzel hin.
»Wo ist Mister Williams?«, wiederholte er seine Frage wortwörtlich. Einzig seine Stimme klang freundlicher.
Statt ihm zu antworten, machte Maahzel zwei ausladende Gesten. Auf die erste reagierten zwei der umstehenden Einheimischen, indem sie sich so positionierten, dass Jonas schnell von seinen Begleitern abgeschnitten werden könnte. Die zweite Bewegung machte dem Captain klar, dass der Häuptling ihn einlade oder auffordere, ihm zu folgen. Jonas zögerte nicht und als er und Maahzel in Richtung dessen Hütten losschritten, versperrten die beiden Indigenen Ter-Nedden und Clerke tatsächlich den Weg. Der zweite Offizier blieb stehen, als ginge ihn das ganze gar nichts an, nur der Doktor trat einen Schritt zur Seite, als wolle er an seinem Bewacher vorbei und dem Captain nachstürzen. Der Einheimische machte die Bewegung nach und der Doktor, der sich nur nicht die Sicht versperren lassen hatte wollen, verharrte resignierend. Clerke zog ihn leicht am Ellenbogen, mit dem Kopf nickte er in die andere Richtung. Ter-Nedden ließ sich, allerdings nur unter mürrischen Murmeln, dazu bewegen, die Szene zu verlassen.
»Williams ist bei Jumi«, meinte Maahzel, da hatten er und der Captain die Hütte gerade erreicht.
»Ist das ein Problem?«, fragte Jonas.
»Ja. Er hätte das nicht tun dürfen.«
»Kann ich ihn sehen?«
»Nein.«
»Was geschieht nun?«
»Ich kann dieser Verbindung nicht zustimmen«, meinte Maahzel rigide.
»Als Häuptling oder als Vater?«, entfuhr es dem Captain. Er wusste selbst nicht genau, warum er diese Frage stellte. Maahzel ließ sie unbeantwortet. Hatte sein Blick gerade noch an den Augen Jonas’ geheftet, so lenkte jetzt offenkundig etwas anderes seine Aufmerksamkeit auf sich. Maahzel sah dicht am Captain vorbei, dieser drehte sich um. In gut zwanzig Metern Entfernung stand Lhaazel. Jonas wollte gerade zu einem weiteren diplomatischen Versuch anheben, doch der Häuptling kam ihm zuvor.
»Finden Sie sich am Nachmittag noch einmal hier ein«, befahl er.
»Ja«, bestätigte Jonas, bemüht, seiner Stimme besondere Höflichkeit zu verleihen. »Was passiert in der Zwischenzeit mit Mister Williams?«
»Er wird es bei Jumi gut haben«, entgegnete der Maahzel. Er hatte sich schon früher abwenden wollen, nun drehte er sich wirklich um und verschwand in der Hütte. Jonas sah Lhaazel an, dass es keinen Zweck haben würde, das Gespräch mit ihm zu suchen, so gingen beide Männer wortlos aneinander vorbei, der Einheimische verschwand in der Hütte des Häuptlings, der Besucher aus einer fremden Welt ging dorthin zurück, wo er seine Kollegen verlassen hatte.
Er fand Ter-Nedden und Clerke nahe der Lagerfeuerstelle wieder, an der am Vortag die feierähnliche Zusammenkunft stattgefunden hatte.
»Doktor«, sprach Captain Jonas, wie in Fortführung von Gedanken, »Ich überlege gerade: Was verstehen Sie eigentlich unter ›bio-soziologisch‹?«

Um einige Spekulationen reicher erschien Jonas in den ersten Stunden nach der Mittagszeit im ausgetretenen Platz vor der Hütte des Häuptlings. Er, Ter-Nedden und Clerke waren sich nun schon beinahe sicher, das Rätsel um das Verschwinden der Kolonisten im Groben gelöst zu haben. Die wirklichen Zusammenhänge fehlten ihnen zwar noch, der eigentliche Ablauf war ihnen auch noch unbekannt und Beweise fehlten freilich vollkommen. Für den Moment hatte ihnen aber ein Gefühl des Ansatzes, wonach man zumindest nun Vermutungen anstellen konnte, genügt. Zynisch hatte Clerke Williams für seinen Einsatz sogar gedankt.
Ein Einheimischer bat Jonas in die Hütte. Der Captain besah sie sich flüchtig. Außer ihm und Maahzel befanden sich keine Personen im zentralen Raum, sogar der Indigene, der wohl eine dienende Funktion zu haben schien, war Jonas nicht gefolgt. Der Häuptling sprach ein paar Worte zur Begrüßung. Mit feierlichen Gesten, die Jonas nicht zu deuten wusste, richtete er sich zu voller Größe auf. Jetzt schätzte der Captain die Körperlänge auf weit über zwei Meter, eindrucksvoll hob Maahzel seine Arme in Schwüngen und nur wenig der Wirkung war verflogen, als sich die beiden Männer wieder wie erstarrt gegenüberstanden.
Jonas sagte nach der Begrüßung kein Wort; dass er eine Auskunft einforderte, war auch so klar.
»Williams«, sagte Maahzel feierlich, »muss hingerichtet werden.«
»›Muss‹?«, wiederholte der Captain. Die Aussage des Häuptlings hatte ihn noch nicht einmal sonderlich überrascht, doch der Tonfall der Verkündung schockierte ihn.
»Ja. Noch diese Nacht.«
»Warum?«, fragte der Captain ruhig. Eigentlich hatte er diese Frage vermeiden wollen, denn obgleich sie natürlich zentrale Relevanz besaß, hielt er sie für sinnlos. Vermutlich gab es viele Tabus, von denen sie noch nichts wussten. Diese Gefahr begleitete sie, Williams’ Verhalten war genau deswegen fahrlässig gewesen. Aber auf diese Weise den Hintergrund eines Verbots erforschen zu wollen, ärgerte Jonas. Die Antwort des Häuptling war indes so unerwartet, dass der Captain seine Frage nicht mehr länger bereuen konnte.
»Weil es nicht möglich sein kann, dass Williams eine aufrichtige Verbindung gesucht hat.«


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Hintergrund-Informationen zu Kapitel VIII

Nach dem letzten Satz des vorangegangenen Kapitels kommt die Bedrohung nicht aus dem Nichts. Fiktionsintern allerdings weiß sie durchaus zu überraschen.
Bemerkenswert ist, wie schnell der Captain Schlüsse ziehen kann (»Doktor«, sprach Captain Jonas, wie in Fortführung von Gedanken, »Ich überlege gerade: Was verstehen Sie eigentlich unter ›biosoziologisch‹?« [S. 48] ), die Konsequenzen bzw. Interpretationen bleiben aber sozusagen unausgesprochen.
Seine Entscheidung, Williams auf den Planeten zu lassen, muss so eigenartig, ja fahrlässig wirken.


Alexander_Maclean

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Antw:Fremde eigene Welten
« Antwort #29 am: 25.06.12, 10:54 »
Ich. wollte. fragen͵ ob du eine Version. hochladen kannst, wo die. Schriftgrö ße grösser ist?

Ich wollte das PDF auf dem Smartphone lesen, aber das ging nicht mal im Querformat.
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