IV
»Commander!«, rief Ter-Nedden Clerke hinterher.
»Lieutenant-Commander. Ja, Doktor, was kann ich für Sie tun?«
»Ich dachte, es sei üblich, einen Lieutenant-Commander auf diese Weise anzusprechen.«
»Wenn es sich eingebürgert hat – ich bevorzuge die ausführlichere Variante«, entgegnete Clerke. »Es gibt nur einen Commander an Bord; das muss seine Richtigkeit haben.«
»In Ordnung«, lachte Ter-Nedden. Was er vom zweiten Offizier halten sollte, wusste der Doktor noch nicht. Die wenigen Eindrücke bislang zeichneten das Bild eines verantwortungsvollen Mannes kurz vor dreißig; immer wieder blitzte hinter der zur Schau getragenen Regeltreue aber noch etwas anderes hervor. Ter-Nedden empfand es als eine Erwartungshaltung, erstens sich selbst gegenüber, zweitens aber auch in Bezug auf alle anderen. Das Lachen hatte Clerke dem Doktor jedenfalls nichts übel genommen, seine Mimik blieb entspannt, sodass sich Ter-Nedden noch eine joviale Gestik herausnahm und sein Anliegen vorbrachte.
»Sie werden sicher viel zu tun haben«, begann er und Clerke nickte, »ich war aber – bislang erfolglos – auf der Suchen nach jemandem, der mir eine Führung durch das Schiff geben könnte.«
»Gerne, Doktor«, erwiderte Clerke. »Da Commander Williams allerdings erst morgen eintreffen wird, habe ich zusätzliche Aufgaben übernommen. Einen solchen Rundgang kann ich Ihnen also erst für morgen Mittag anbieten.«
»Der Commander ist noch nicht an Bord?«, wollte Ter-Nedden nachhaken und beinahe wäre dieser Frage noch die Bemerkung gefolgt, dass sich dann momentan sogar kein Commander auf dem Schiff aufhielte, doch Clerke bejahte so knapp und doch energisch, dass sich der Doktor sicher war, darin Spuren eines Vorwurfs gehört zu haben, den er nicht austreten wollte, sodass er hierzu schwieg.
»Morgen Mittag passt mir wunderbar«, sagte er stattdessen, »Wäre Sie so freundlich, mich um zwölf Uhr in meinem Büro aufzulesen?«
Mit dieser Verabredung schieden beide Männer voneinander. Das Schiff auf einige Faust zu erkunden, schien Ter-Nedden nun nicht mehr sinnvoll. Er begab sich lediglich noch einmal zu jenem galerieähnlichen Raum, in den man unweigerlich geleitet worden war, nachdem man das Schiff durch die Luftschleuse betreten hatte. Einige Bilder und Projektionen brachten dem Besucher den Hintergrund des Namens Cœur de Marie näher und dokumentierten die Entstehung der Raumschiffklasse. Dort, in diesem Raum, aber auch auf dem Weg dorthin und später auf den Korridoren, die zu seinem Quartier führten, beobachtete Ter-Nedden noch die neue Crew und verlor sich für den Abend in Einzelgesprächen.
Um Punkt zwölf Uhr des anderen Tages begrüßte Clerke Ter-Nedden mit den Worten, nur wenig Zeit zu haben und den Rundgang deswegen auf einige wichtige Stationen beschränken zu müssen. In Anbetracht der doch recht geringen Größe des Schiffs zeigte sich Clerke jedoch zuversichtlich, dem Doktor auch so einen guten Überblick vermitteln zu können. Sie begannen ihre Tour in der Bugsektion des Raumschiffs. Clerke erklärte, dass der Aufbau der Cœur de Marie mit einigen Standardkonstruktionen brach. Dass der Warpkern schräg im vorderen Teil der Untertasse angebracht sei, läge an der Ramscoop-Anlage, die nicht in die Warpgondeln integriert, sondern vorne an der Untertassenoberseite installiert war. Dadurch sei nicht nur der Deuteriumtank in den Hauptrumpf gewandert, sondern auch der Energiereaktor selbst und in logischer Konsequenz ebenso das Antimaterielager. Über einen Abstecher zum botanischen Garten, am Rücken der Untertassensektion auf Deck zwei gelegen, führte Clerke Ter-Nedden zur Shuttle-Rampe. Sie befand sich in der Mitte des Sekundärrumpfes, an dessen breitester Stelle. Die Beiboote des Schiffs verließen diese Halle, die sich über fünf Decks erstreckte, zunächst zur Seite, würden dann aber durch einen Tunnel nach hinten umgelenkt; so lag die Rampe wie geschützt. Der Sekundärrumpf und in Ebenen gedacht alles unterhalb von Deck sieben besaß lediglich logistischen Charakter: Clerke führte den Doktor durch sich über mehrere Etagen erstreckende, hallenartige Frachträume. Hier fasste Ter-Nedden eine bislang vage Beobachtung in Worte, indem er die immer wieder zutage tretende Eigenschaft des Schiffs pries, trotz seiner geringen Ausmaße immer wieder groß, immer wieder geräumig zu wirken.
Die Reise des Raumschiffs dauerte nun schon zwei Monate; nun, zur Halbzeit, hatte der Captain zum ersten Mal zu einer Abendrunde geladen. Von den Gästen – der Doktor, der erste und zweite Offizier, sowie der leitende Ingenieur – stieß Commander James Williams als letzter zu der Runde. Der Captain hatte sich seit Missionsbeginn was den Kontakt zur Crew anbelangt recht zurückgehalten, ein eigentliches Abbild für die Stimmung der Mannschaft konnte wohl am ehesten der Doktor zeichnen, aber entgegen anderer Vermutungen Williams’ war diese Zusammenkunft nicht seine, sondern Jonas’ Idee gewesen.
Schnell wurde indes deutlich, dass das Treffen nicht lediglich eine Gelegenheit darstellen sollte, um sich näher kennen zu lernen, vielmehr warf der Captain schon nach dem ersten Gang ein Thema zur Diskussion in die Runde.
»Was halten Sie nun von dieser Mission?«, meinte er recht unvermittelt und Teil dieses Einstieg war es bereits, niemanden direkt angesprochen zu haben. Hatte er sich vor Stellen der Frage noch einmal umgeblickt, richtete er währenddessen den Blick leicht nach unten; statt es als Emphase der Beiläufigkeit zu werten, hätte man auch Verlegenheit darin lesen können.
Der zweite Offizier, Lieutenant-Commander Clerke, antwortete als erster.
»Ich halte unsere Mission für höchst problematisch!«
»Wieso?« Die Frage kam von Williams.
Clerke positionierte sich, indem er den leeren Teller des ersten Gangs etwas gen Tischmitte schob, sich leicht vorbeugte und, die Ellbogen auf der Tischplatte aufsetzend, die Hände faltete.
»Das ganze Konzept, das unserer Mission zugrunde liegt, ist auf gefährliche Art überkommen. Schon seit Jahrhunderten. Ich halte es für unverantwortlich, auf einem fremde Planeten mit einer derart andersartigen Lebensform eine Kolonie zu errichten.«
»Mit ›andersartig‹ meinen Sie wohl unterlegen?«, hakte Ingenieur Borland nach und der Doktor fügte, langsam und mit innerster Ruhe sprechend, hinzu:
»Denn äußerlich unterscheidet uns nichts von den Bewohnern dieser Welt.«
Clerke hatte sich wieder zurückgelehnt. Er überließ sich nun der Wirkung seiner Worte.
»Hier beginnt bereits unser erster Fehler«, entgegnete er. »Wie kann man von ›Unterlegenheit‹ sprechen, wenn man es mit einem fremden Volk zu tun bekommt?«
»Sie kennen keine Technologie, wie wir sie haben«, erklärte Borland seinen Ausspruch. »Das eindrücklichste Beispiel wäre sicher, das sie gegen unsere Waffen keine wirksame Form des Widerstandes hätten. Sie sind für uns doch vergleichbar mit Indianern oder mit den Insulanern früherer Zeiten.«
»Und doch«, mischte sich Williams ein, »machen wir von unserer Überlegenheit nicht Gebrauch. Commander Clerke, etwas unterscheidet uns doch von den Kolonisten frührer Jahrhunderte: Wir drängen uns nicht auf, die Bewohner dieser Welt kennen bereits Weltraumreisende, unsere Anwesenheit auf ihrem Planeten hat ihre Erlaubnis und der Kontakt, wenn er denn stattfindet, ist nicht nur begrenzt, sondern auch harmlos oder für beide Seiten gewinnbringend.«
»Ich bin der Meinung«, entgegnete Clerke, scheinbar jeden Einwand erwartend, »dass wir immer noch dieselben Fehler wie früher begehen. In erster Linie meine ich damit Wertungen. Aus einer Ethik der Stärke heraus – woher sie für unser spätes vierundzwanzigstes Jahrhundert auch stammen mag – wertet ein Begriff wie ›Unterlegenheit‹ doch ab. Intuitiv sorgt er jedenfalls dafür, dass wir in letzter Instanz nicht bereit sein werden, unsere Möglichkeiten zu ignorieren: Wie sollen wir auch vergessen, dass wir im Fall der Fälle unseren Willen durchsetzen können?«
»Aber unserer Kontakt zu Fremden beruht gerade darauf, dass wir nichts über deren Willen hinweg entscheiden«, entfuhr es Williams.
»Das genügt nicht, Commander. Schon vor Jahrhunderten erkannten Menschen, dass die bloße Anwesenheit eine katastrophale Einmischung bedeutet.«
»Um das zu verhindern«, sprach Ter-Nedden, » haben wir die Oberste Direktive.«
»Ja, Doktor«, sagte Clerke, »und dieses Gesetz der Nichteinmischung wird hier sträflich ignoriert. Es tut nichts zur Sache, dass die Fremden schon Kontakt zu Außerirdischen hatten, bevor die Sternenflotte ihre Kolonie errichtet hat, genauso wenig wie die Siedlungserlaubnis. Denn dass die Fremden die Tragweite einer solchen Erlaubnis nicht absehen können, sehe ich darin belegt, dass selbst wir – mit dem Hintergrund der lange bestehenden Raumflotte und unserer Wissenschaften – das nicht vermögen.«
»Das können Sie nicht beweisen!« Williams Worte zeugten von einer Leidenschaft, die ihn in dieser Diskussion ergriffen hatte.
»Nein, Commander, noch nicht. Aber mit Blick auf unsere Mission: Der Grund dafür, dass sich die Kolonie seit Monaten nicht mehr meldet, könnte genau dieser Beweis sein.«
Einige Momente trat Ruhe ein.
»Sehr gut, meine Herren«, sprach Captain Jonas schließlich; er hatte, nachdem er die Eingangsfrage gestellt hatte, nur noch zugehört und beobachtet, »Der zweite Gang ist da.«
Zur Kolonie gab es immer noch keinen Kontakt, die Crew des Raumschiffs erging sich in Routine; das Ziel war noch so fern, dass sich der Arbeitsalltag an Bord nicht mit den zukünftigen Aufgaben vergleichen ließ. Es war Idee des bolianischen Sicherheitschefs Reev, mit den Mitgliedern seines Teams auf dem Holodeck Übungen durchzuführen, die man unter dem Motto einer Geiselbefreiung zusammenfassen konnte. Jonas ließ ihn gewähren, wohnte dem Training selbst aber nicht bei. Clerke wiederum, der als Stabsoffizier über derlei Vorgänge informiert wurde, besah sich die Szenarien und führte anschließend mit Reev noch gesonderte Analysen durch. So saßen beide auch an einem Abend zwei Wochen vor Ankunft zusammen. Die eigentliche Besprechung zur Aktion und Reaktion der Leute der Sicherheit war bereits beendet, es wäre nun ein Zeitpunkt gekommen, die Unterhaltung lockerer oder persönlicher zu gestalten, doch als habe Clerke diese Eigenschaft schon von seinem neuen Captain übernommen, übte er sich in Reserviertheit, und der Bolianer war für gewöhnlich ohne hin eher ruhig und abwartend. So drehte sich das kleine Gespräch letzten Endes immer noch um den Themenkreis, der die beiden Männer ohnehin hier erst zusammengeführt hatte.
»Aus Ihrer Erfahrung heraus: Wird es Schwierigkeiten geben?«
»Nein«, antwortete Reev leise, es klang fast düster. »Es kann nichts geben, was uns die Einheimischen entgegenhalten können.«
»Aber die Siedler antworten nicht.« Clerkes Ton wirkte leicht provokant, doch er prallte an Reev ab.
»Die Gründe hierfür sind unbekannt. Ich weiß auch nicht, wie die Fähigkeiten der Kolonisten waren.«
»Beamen können wir nicht. Sie kennen ja die atmosphärischen Besonderheiten.«
»Sie haben die Übungen gesehen. Auch ohne den Transporter sind wir mit unseren Möglichkeiten überlegen.«
»Wie würde Sie vorgehen, Reev?«
»Sie haben die Übungen gesehen.«
»Das meinte ich nicht.«
»Ab einem gewissen Zeitpunkt...«, hob er an, doch wurde unterbrochen.
»Und davor?«
»Verhandeln.«
»Was können die Fremden schon von uns wollen? Umgekehrt: Was können wir ihnen schon geben? Oder noch besser ausgedrückt: Was dürfen wir ihnen schon geben? Aber das soll nicht Ihre Sorge sein. Wie würden Sie ab diesem einen, gewissen Zeitpunkt an also vorgehen?«
»Wir sorgen für eine Situation, in der wir eine momentane, taktische Mehrheit besitzen.« Der Bolianer griff die rhetorischen Fragen des zweiten Offiziers nicht auf. »Mit den Phasern auf Betäubung erhalten wird schnell die Oberhand, können die Kolonisten befreien und den Planeten verlassen. Sie haben die Übungen gesehen, das wir das schaffen, steht außer Zweifel.«
Clerke nickte geistesabwesend.
Ter-Nedden stütze sich mit dem Handgelenk auf dem Geländer ab. Leicht hätte man den Eindruck gewinnen können, dies wäre ein Zeichen von Kraftlosigkeit. Tatsächlich fühlte sich Ter-Nedden inzwischen wirklich etwas alt. Wie er so von der Galerie herabsah, in die leichte Dämmerung der botanischen Anlage, und die junge Frau an einem der künstlichen Gewässer beobachtete, kamen Erinnerungen an vergangene Abenteuer. Das Mädchen verschwand, Ter-Nedden verharrte in seiner Position; über Minuten, denn zum Nachdenken gab es immer viel.
Er hatte bemerkt, wie sie neben ihn getreten war, reagierte aber nicht gleich. Sie stand vielleicht zwei oder drei Meter von ihm entfernt, zuerst ihm zugewandt; als sie sich ihm gleich auf das Geländer stütze, sprach Ter-Nedden leise vor sich hin.
»Ich war hier noch nie am Abend.«
Sie schwieg, so fuhr er fort.
»Ich fand es hier von Anfang an schön. Ich glaube, hier her werde ich kommen, wenn ich mich mal unwohl fühlen werde. Ja.«
Da das alles nichts brachte, entschloss sich der Doktor, direkter auf sie einzugehen.
»Wir sind uns doch auf dem Gang erst von ein paar Tagen begegnet.« Es war kaum eine Frage.
»Ja, das stimmt wohl.«
»Erlauben Sie einem alten Mann, sich zum Charmeur aufzuspielen: Sie sind mir besonders aufgefallen.«
»Danke«, entgegnete sie, ihr Blick war nicht schüchtern.
»Nun«, fuhr er fort, in einem allzu unbedeutenden Tonfall, der gar nicht mehr recht auf sein Gegenüber zugeschnitten zu sein schien, »darin, charmant zu sein, bin ich gar nicht geübt. Ich muss Sie bitten, mir zu verzeihen. Jetzt erst erkenne ich, wie schön Sie wirklich sind. Das, was mir vor ein paar Tagen, bei unserer früheren Begegnung, aufgefallen war, das war etwas anderes.«
Er überlegte einen Moment, ob er sich wegdrehen und wieder in den Garten hinabblicken sollte. Das wäre indes die Art der Unhöflichkeit gewesen, die er nun wirklich nicht erreichen wollte, obwohl er dennoch Gefahr lief, auch mit seiner eigentlichen Intention diesen Eindruck zu vermitteln. Auch ohne dass er sich von ihr abwand, tat sie ihm den Gefallen, nicht darauf zu warten, dass er von selbst fortführe.
»Was ist Ihnen denn damals an mir aufgefallen?«
Er schnaufte durch, fast so als trage er eine gewisse Sorge mit sich herum, doch noch während er so ausatmete, begann ein leichtes Lächeln seine Lippen zu umspielen und dem Ausdruck damit die Schwere vollends zu nehmen.
»Wissen Sie, über fünfzig Jahre bin ich nun schon Mediziner auf Sternenflottenraumschiffen. Und wenn ich so zurückdenke, an meine ersten Jahre, an meine ersten Flüge – und wenn ich mir die Leute jetzt anschaue, vor allem die jungen Leute... Ich weiß, dass ich damals sehr aufgeregt war; dass ich damals nervös war. Aber heutzutage scheint das niemand mehr zu sein.«
Sie sah ihn an, nicht mehr als eine Sekunde verging, in der sie noch zu überlegen schien, sich dann aber zu einer Antwort entschlossen hatte; gerade hob sie dazu an, da sprach er schon wieder.
»Ja, Sie wirkten auf mich so sympathisch, weil ich – es war ja nur ein Moment – in Ihnen glaubte, irgendetwas von diesen jungen Mediziner von damals wieder gefunden zu haben.« Nach einer geschickten Pause fügte er hinzu: »Entschuldigen Sie diese wirren Gedanken eines Alternden.«
»Nein, nein«, entgegnete sie nun, recht energisch, damit Ter-Nedden nicht wieder das Wort erheben konnte, »Ihr Eindruck war schon richtig. Seit ein paar Tagen bin ich wirklich etwas nervös.«
Er lachte.
»›Etwas nervös‹? Der junge Mediziner hatte damals wirklich Angst«, meinte er fröhlich. Von ihr wich die Anspannung mehr und mehr.
»Was für eine Aufgabe haben Sie an Bord dieses Schiffs?«, fragte er.
»Steueroffizierin. Ich bin eingeteilt, das Shuttle-Schiff zu fliegen, das die Expedition zur Oberfläche bringt.«
»Wegen des Flugs selber werden Sie nicht aufgeregt sein«, spekulierte er, »und vielleicht außerirdisches Leben zu Gesicht zu bekommen, ist ein guter Grund, aufgeregt zu sein.«
»Aber was mit den Kolonisten geschehen ist, wissen wir nicht.«
»Das stimmt«, versetzte er, so als sei dies ein rein akademisches Thema. Er merkte aber, dass es ein heikler Punkt werden würde, spürte, dass nach Drehen und Wenden die Sorgen der jungen Frau womöglich eher noch vermehrt werden würden und so entschied er sich für die reine Zuversicht, die in noch aussichtloseren Situationen ihre Berechtigung hat. »Aber es wird schon alles gut gehen«, fügte er also phrasenhaft hinzu. »Meine Erfahrung sagt mir nämlich auch, dass sich die Sorgen am Ende als unbegründet herausstellen, die zur Vorsicht führten. So viele Gedanken, wie Sie sich gemacht haben, werden Sie sicher nichts leichtsinniges anstellen. Und unser Captain macht mir auch nicht den Eindruck, sich unbedacht in Abenteuer stürzen zu wollen.«
Sie atmete hörbar durch; auch sie mochte diesen Ort. Ein paar Sekunden standen sie noch schweigend beieinander, dann verabschiedete sie sich von Ter-Nedden.
»Waren Sie schon in der Aussichtslounge auf Deck fünfzehn?«, meinte sie, als sich schon die Tür hinaus in den Gang geöffnet hatte; das Licht draußen war zwar auch bereits abgedunkelt, dennoch so hell, dass ihr Körper nur als Schemen zu erkennen war. Sie trat noch einmal hinein in den Raum, so als sei es ungehörig, in den dunklen Dschungel zu rufen.
»Nein.«
»Das lohnt sich aber auch!« versetzte sie und schließlich: »Gute Nacht«. Sie machte kehrt, um tatsächlich zu gehen.
Er sah ihr noch ein wenig nach, ehe er sich zum Geländer zurückbeugte. Nur noch einzelne Lichter glommen, in der unteren Etage an den Wegführungen; es war Nacht. Gerade hatte das Belüftungssystem mit der Simulation eines leichten Windes begonnen, die Blätter der Bäume raschelten.
›Wahrscheinlich werde ich wirklich alt‹, dachte er bei sich, ›denn das hat sie kein einziges mal bestritten.‹
Der kurze Anflug von Eitelkeit amüsierte ihn jedoch mehr, als dass er sich wirklich getroffen fühlte. Mit gewisser Gelassenheit horchte er in die Dunkelheit und dachte bereits schon wieder über etwas anderes nach.
»Wir werden«, begann Jonas seine Rede vor der kleinen Versammlung der Offiziere, »zunächst die Station aufsuchen. Falls wir aus dem Orbit heraus Kontakt zu den Kolonisten herstellen konnten, vergewissern wir uns, dass die von ihnen gemachten Angaben zutreffen.« Der Leiter der Sicherheit Reev wollte an dieser Stelle etwas sagen, doch der Captain sprach, obgleich er es bemerkte, weiter. »Erscheint es uns dann notwendig, die Siedlung der Einheimischen aufzusuchen, werden wir das machen; falls nicht, nicht. Ist es uns nicht möglich, Kontakt zu den Einheimischen aufzunehmen, werden wir sie mit den Sensoren suchen. Ich gehe davon aus, dass Sie alle Mister Clerkes Bericht gelesen haben; eine Schicht der Atmosphäre besteht aus rasch zirkulierenden, geladenen Partikelchen, die ein Wetterphänomen ähnlich uns bekannter Wolken hervorrufen und gleichzeitig dafür sorgen, dass wir den Planeten nur mit dem Shuttle erreichen können. Es ist allerdings davon auszugehen, dass es für die Sensoren zur Erfassung von Lebenszeichen keine Einschränkung gibt. Falls wir die Kolonisten also auf diesem Weg finden, suchen wir sie dort auf, wo sie sich aufhalten. Der Kontakt mit unseren Leuten ist wichtiger als das Gebot, den Kontakt mit den Einheimischen zu meiden. Treffen wir die Kolonisten nicht an – das bedeutet: finden wir über den ganzen Kontinent keine Spuren von ihnen – suchen wir die Siedlung der Einheimischen auf und befragen sie.«
Hier machte der Captain eine Pause. Reev, der geduldig gewartet hatte, beobachtete die anderen Herren, die sich am Tisch befanden. Ter-Nedden blickte heiter, fast als sei er gedanklich bei etwas anderem, Clerke und Williams saßen an der jeweils anderen Seite des Captains; sie schwiegen, schienen auch zu beobachten. Der Ingenieur Borland hatte sich in seinen Stuhl zurückgelehnt, wirkte in dem Sinne passiv, dass er nichts direkt in die Versammlung einbringen wollte, sondern seine Aufgabe vielmehr in der Unterstützung oder Ausführung der Aufgaben anderer sah. Die Hand seines ausgestreckten rechten Arms reicht gerade an das in den Tisch eingelassene Computerbedienfeld heran. Er würde, falls notwendig, schnell Eingaben tätigen können. Nun, da die Sprechpause schon mehrere Sekunden andauerte, brachte Reev den Aspekt ein, der ihm zuvor eingefallen war.
»Sie erwarten ein unaufrichtiges Verhalten der Kolonisten?«, fragte der Bolianer.
»Ich möchte es nicht ausschließen«, entgegnete Jonas. Er begleitete diese Worte mit einigen Handbewegungen, die auf eine Weise lässig wirkten, als wolle er damit zum Ausdruck bringen, dass dieser Teil der Angelegenheit, unabhängig von der Konsequenz, die sich ergeben würde, gar nicht von entscheidender Bedeutung sei. Mit ruhiger Stimme sprach er weiter:
»Wir wissen nicht, zu welchen Verflechtungen es auf dem Planeten gekommen sein könnte. Die Motivation, zu schweigen«, er spielte auf lange Sendepause der Kolonisten an, »kann genauso viele Hintergründe haben, wie die, uns nicht die Wahrheit zu sagen.«
»Ist das nicht etwas weit gedacht?«, warf der Commander ein. Schnell hafteten die Blick aller anderen auf ihm. »Die Station ist abgelegen. Eine ›Motivation‹, wenn Sie so wollen, kann schlicht ein defekter Sender sein, der mit den Möglichkeiten vor Ort einfach nicht repariert werden konnte.«
»Sie haben Recht, Mister Williams«, gab Jonas zu. »Aber es geht hier und jetzt noch nicht darum, ein Ergebnis zu definieren. In den Wochen des Anflugs mussten wir untätig bleiben und das nur aus dem Grund, weil wir über die lange Verbindung nur ein Mittel der Aktion gehabt hätten, das der Kommunikation. Es blieb uns leider verwehrt. Was wir jetzt erreichen können, ist, ein klares Vorhaben zu benennen und uns der Eventualitäten bewusst zu werden.«
»Was könnte die Kolonisten denn bewegen, sich – im Falle der bestehenden Möglichkeiten dazu – einer Kontaktaufnahme mit uns zu verweigern?«, fragte Ter-Nedden in einem Tonfall, dessen Naivität etwas gekünstelt wirkte.
Der Captain wollte antworten, weil er einerseits durchaus mehrere Szenarien dafür erdacht hatte. Allerdings missfiel ihm die Vorstellung, mit diesem Beispiel zu sehr das Zeichen zu geben, freies Spekulieren sei an dieser Stelle erwünscht. So schwieg er, ein anderer nahm das Wort.
»Ein Druck von Innen oder von Außen.« Es war Borland.
»Genauer!«, meinte Williams fast harsch, nicht nur neugierig klingend.
»Die Einheimischen könnten sie zu falschen Aussagen zwingen«, antwortete Reev anstelle Borlands. »Vielleicht gibt es Geiseln.«
»Und womöglich haben die Kolonisten – oder zumindest einige von ihnen – eine Grenze im Kontakt zu den Einheimischen überschritten, die nach der Obersten Direktive nicht überschritten werden hätte dürfen. Diesen Übertritt nun könnten sie zu kaschieren versuchen«, ergänzte Ter-Nedden aus einem spontanen Einfall heraus.
Es war dies nun der Zeitpunkt, an dem sich die zuvor im Rahmen des Abendessens geführte Diskussion zu wiederholen drohte. Lieutenant-Commander Clerke schaltete sich sofort mit ein, doch der Captain ließ ihn diesmal nicht gewähren.
»Es ist ja das Problem an dieser Konstellation, dass die Oberste Direktive per Definition ausgehebelt wurde! Das schafft die Räume, in denen Sicherheit im Umgang mit...«
»Genug.«
Die kleine Versammlung löste sich auf; auf dem Gang sorgte Jonas mit einer schlichten Handbewegung noch dafür, dass der Ingenieur nicht wie die anderen sofort auf seinen Posten zurückeilte.
»Mister Borland«, sprach der Captain dann, »versuchen Sie bitte einen Weg zu finden, um den Beam-Transporter für diesen Planeten einsetzbar zu machen.«
»Nun...«, begann Borland eher zögerlich.
»Gibt es ein Problem mit diesem Befehl?«
Erst nun begriff Borland, dass es sich bei dieser Anfragen um mehr als eine bloße Erkundigung gehalten hatte.
»Das nicht.«
»Aber?«
»Der Effekt, der Beamen durch diese Atmosphäre verhindert, ist in dieser Form schon seit Jahrzehnten bekannt, das grundsätzliche technische Hindernis sogar schon seit annähernd hundert Jahren.«
»Ja. Und nun, Mister Borland?«
Leicht hätten Jonas’ Worte als scharfe Replik, als bloßstellender Sarkasmus aufgefasst werden können, aber zum einen war Borland vergleichsweise auf geradezu naive Art immun gegen solche verbalen Angriffe und zum anderen hatte es der Captain auch verstanden, genau diese Brisanz nicht entstehen zu lassen. Er sprach in solchen Situationen meist so gleichmütig, dass – und dies bedeutete Segen und Unannehmlichkeit zugleich – jedwedes Gegenüber kaum darüber nachdachte, was der Captain wohl in diesem Moment für Hintergedanken hegte. Borland jedenfalls sah sich hierin nicht veranlasst, seinen Status als leitender Ingenieur an Bord zu rechtfertigen.
»Ich glaube nicht«, entgegnete er, »dass ich dieses Problem nun plötzlich lösen kann.«
Des Captains Antwort, eigentlich nichts mehr als eine weitere Frage, indes traf ihn unerwartet; sie war so schlicht, dass sie sofort überzeugte.
»Was spricht dagegen, es zu versuchen?«
Borland wurde von einer irritierenden Verlegenheit ergriffen. Er nickte, rieb sich mit der Hand mehrere Male über den Nacken und verschwand. Jonas sah ihm noch ein paar Momente nach. Er war ein guter Ingenieur, das wusste Jonas aus den Akten, das Problem mit dem Transporter würde Borland allerdings wirklich nicht lösen können.
Hinter der nächsten Korridorbiegung hatte Doktor Ter-Nedden dem Captain aufgelauert. Wie als hätten sie denselben Weg, ging er ein paar Schritte neben ihm her, ehe Jonas das Wort ergriff.
»Gibt es noch etwas, Doktor?«
»Ja.«
Da sie immer noch gingen, der Doktor aber keine Anstalten machte, weiterzureden, hielt Jonas an. Erst jetzt sprach Ter-Nedden, in einem Tonfall, den nur er zu beherrschen schien: Unaufgerecht, selbstverständlich, naiv hüpften die Worte zusammen zu trügerischen Sätzen.
»Mir ist das erst heute aufgefallen«, begann er, »in der Besprechung. Warum hast Du mich bei dieser Mission dabei?«
Es fiel Jonas nicht gleich auf; er ordnete gerade seine Gedanken zur Antwort, ein Prozess, der in der Reflexion oft und gerne als lange wahrgenommen wird, in Wahrheit aber vielleicht gerade einmal eine Sekunde einnimmt; und am Ende dieser Sekunde wurde er der Tatsache gewahr, von Reto Ter-Nedden geduzt worden zu sein. Er war verblüfft, ein weiterer Augenblick verstrich, der Doktor sprach bereits weiter.
»Man hatte mich übrigens gefragt, ob ich noch mal ins All möchte, das weiß ich noch.«
»Wie lautete Ihre Antwort?«
»Das weiß ich nicht mehr. Wirklich: Ich kann mich nicht mehr recht daran erinnern. Das Alter! Ich weiß aber, dass diese Frage kam und heute ist es mir aufgefallen: ›Warum sitzt Du eigentlich hier?‹...«
»Ich habe Sie angefordert«, sagte Jonas.
»Wirklich: Sie haben mich angefordert? Das ist gut. Ja, das ist gut.«
»Sie waren damals dabei«, erklärte Jonas. Er wusste, dass Ter-Nedden bei ähnlichen Begründungen gewöhnlich abwinkte, dennoch führte er dieses Argument jetzt ins Feld, weil es bei seiner Mannschaftsauswahl tatsächlich eine Rolle gespielt hatte. »Wenn etwas passiert, wissen Sie am ehesten, was zu tun ist.«
Die Reaktion Ter-Neddens überraschte den Captain, denn diesmal kokettierte dieser nicht mit angeblich auch nur begrenzten Fähigkeiten und Kenntnissen.
»Schon gut«, sagte er stattdessen knapp. »Ich wollte nur nicht, dass es anders war.«
Sie beließen es bei diesem Satz als Abschluss ihrer Unterhaltung, Jonas wollte ihn gar nicht tiefer verstehen. Ter-Nedden war auch froh darüber. Er hätte gewiss noch rhetorische Finten erdenken können, die ihn davor bewahrt hätten, die Wahrheit aussprechen zu müssen und doch glaubte er, Jonas besäße eine Art Recht darauf, die Befürchtungen, die Ter-Nedden besessen hatte, zu erfahren. Wahrscheinlich, so zog der Doktor für sich als Fazit, ahnte der Captain sie ohnehin. Ter-Nedden hatte sich an das Gespräch mit dem Admiral erinnert und war an diesem Tag, bei dieser Besprechung, vom beunruhigenden Gedanken eingeholt worden, die Admiralität habe Jonas nur unter der Auflage befördert, dass ihm er, Ter-Nedden, wie ein Aufpasser zur Seite gestellt werden würde.
Immer noch leicht beunruhigt betrat der Doktor die Krankenstation.
In wenigen Stunden würde das Schiff die Kolonie erreichen.
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Hintergrund-Informationen zu Kapitel IV
Bereits bevor Williams an Bord kommt, wird er "problematisiert". Sein Konflikt mit Clerke ist jedenfalls schon angelegt.
Die Vorstellung des Schiffs erfüllt weitestgehend gängige Konventionen. Allerdings zeigt sich auch, wie das Schiff ein Position zwischen Althergebrachtem und Neuartigem einnimmt.
Das Essen der Offiziere macht die Fronten endgültig klar. Erstmals kann aber auch etwas über den Führungsstil des jungen Captains in Erfahrung gebracht werden.
Die Szene im Garten verdeutlicht wiederum den Geschlechteraspekt: Mit der jungen Pilotin tritt die einzige wiederkehrende Frau (von Jumi, die ein Kapitel für sich ist, abgesehen) in Erscheinung. Zwar erfahren wir ein wenig über sie, in erster Linie geht es um Ter-Nedden. Letztenendes bleibt sie aber austauschbar, es fällt nicht einmal ihr Namen. Im Zuge des Patriarchatmotivs dient sie dann eher als Spiegel männlicher Eitelkeit (auch wenn diese schnell ironisiert und relativiert wird: "Mit gewisser Gelassenheit horchte er in die Dunkelheit und dachte bereits schon wieder über etwas anderes nach." [S. 19]).
In der folgenden Besprechung taucht der Begriff "Verflechtung" [S. 20] nicht zufällig auf. Denkt man an die Kulturverflechtung im Rahmen des Kolonialismus hat man bereits eine Art Vorahnung, wozu es kommen konnte oder kommen könnte.
Die Worte, die Ter-Nedden und Jonas wechseln, beziehen sich wiederum auf das Geheimnis, das beide verbindet. Das, was in dieser Unterhaltung nebulös angesprochen wird, hat durchaus große Bedeutung für die Beziehung, in der Jonas und Ter-Nedden zueinander stehen. Letztlich hat das auch etwas mit einem Gefühl der Unsicherheit zu tun, mit dem Ter-Nedden die Beförderung Jonas' womöglich betrachtet.