Der nächste Teil:
Karala ging langsam durch eine Allee. Sie sah überall die kahlen, toten Bäume, ihr dichtes Netz von Ästen. Es herrschte eine Atmosphäre von Tod und Zerstörung.
Am blutroten Himmel flogen gerade riesige Schwärme von Krähen.
Karala ignorierte diese und ging mit gesenktem Kopf weiter. Aus dem Augenwinkel sah sie, viele Krähen saßen ebenfalls auf den Ästen.
Ein unheimlicher Anblick, als ob sie darauf warteten, dass irgendeine unvorsichtige Beute zwischen sie kam, die sie dann genüsslich alle auf einmal angreifen und zerfleischen konnten. Die Krähen schienen alles im Blick zu haben, selbst das kleinste Blatt, was sich bewegte. Nichts schien ihnen zu entgehen. Niemand schien vor ihren stechenden Blicken sicher zu sein.
Der Wind pfiff unermüdlich durch die kahle Gegend. Die Luft war eiskalt.
Auf einmal hörte man ein lautes Krähen vieler Vögel.
Karala erschrak kurz und wich zurück. Es war zwar nur das Geräusch von Vögeln, aber nach dem, was sie sah war Karala teilweise so angespannt, dass kleinste Geräusche sie in Panik versetzen konnten.
Sie sah sich erschreckt um. Genau in dem Moment saß direkt vor ihr auf einem Ast ein Rabe. Dieser Rabe spreizte seine Flügel, bewegte sich nach vorne und krächzte Karala laut an.
Karala erschrak wieder. Jetzt hörte sie auch deutlich ihren Herzschlag. Sie umklammerte fest ihre Tasche, schaute nach unten und lief so schnell sie konnte durch die schier endlose Allee.
Einfach nur weg. Einfach nur ruhe.
Das dachte sie momentan. Was wird noch passieren?
Nach kurzer Zeit kam Karala zu einem Eingang einer U Bahn Station. Sie las kurz die elektronischen Hinweisschilder. Da die Bahnlinie dort scheinbar zum Hauptbahnhof führen würde ging sie schnell in die Haltestelle.
Sie fuhr mit der langen Rolltreppe in Richtung der Station, durch den Stockfinsteren Schacht der Rolltreppen. Die einzigen Lampen im Bereich der Rolltreppen waren kaputt und sprühten Funken, weshalb das einzige Licht im Bereich vom Bahnsteig selbst und von draußen kam.
Karala war noch sehr stark in Gedanken versunken. Deshalb bemerkte sie es nicht, dass hinter ihr aus der Wand 3 Arme kamen. Diese sahen skelettartig aus und waren übersät mit Geschwülsten. Diese kamen langsam aus der Wand, ohne ein Geräusch zu machen und bewegten sich wie Wild hin und her.
Nach kurzer Zeit aber bewegten sie sich konkret in eine Richtung, in die Richtung von Karala. Sie kamen langsam näher. Niemand bemerkte sie aber.
Genau, als sie knapp vor Karalas Kleid waren verschwanden die Arme wieder, genau so plötzlich und spurlos wie sie gekommen waren.
Sie waren einfach weg.
Karala bemerkte davon rein gar nichts. Sie ging einfach weiter und sah, wegen Störungen kamen noch keine Züge.
Auf dem Bahnsteig waren an den Seiten viele Säulen, die Schatten zur Mitte hin warfen. Nur wenige Leute waren im Raum.
Diejenigen, die da waren beschwerten sich teilweise laut über die Zugausfälle.
Karala war dies alles egal. Sie setzte sich einfach auf den Boden, beugte sich nach Vorne, senkte ihren Kopf und guckte nach unten.
In der U Bahn Station herrschte normaler Betrieb, trotz des Angriffs. Passanten kamen und gingen, aber dies interessierte sie eigentlich nicht mehr. Sie nahm es auch fast gar nicht mehr war. Es war nur eine endlose Leere und Einsamkeit.
Sie wollte stark sein, wenigstens dieses eine Mal, aber sie lief wieder davon. Damit hatte sie eigentlich in ihren Augen ein für alle Mal bewiesen, was für ein Nichtsnutz sie war.
Sie fühlte nichts als Schmerz dachte aber auch, sie hätte auch nichts Anderes verdient, nach dem, was sie verbrochen hatte. Es rückgängig machen ginge aber auch nicht. Nach dem, was sie getan hatte würde sie nie wieder die Chance haben, zu ihnen zurück zu kehren. Durch ihre Dummheit hätte sie einfach alles kaputt gemacht, endgültig.
Alles war nur ihre Schuld.
Nach einer Weile senkte sie ihren Kopf, hielt ihre Hände vor ihre Beine und fing leicht an zu weinen.
Sie sagte leise zu sich:
„Verdammt. Dies war meine letzte Chance. Meine Einzige.
Und nur weil ich so eine verdammte feige Sau bin habe ich sie weggeworfen.
Nur wegen meiner verdammten Feigheit.
Jetzt ist alles aus.
Alles.
Es wird nur noch schlimmer werden. Ich werde immer nur Schmerz empfinden müssen.
So jemand wie ich hat es aber auch nicht besser verdient.“
In dem Moment viel ihr aus der Tasche ein altes Foto. Es zeigte einen früheren Klassenkameraden von ihr, ihre erste große Liebe, die natürlich, wie so vieles Erfolglos war.
Als sie das Bild sah fing sie lauter an zu weinen, heftiger und verkrampfter.
Sie sagte weiter hastig:
„Alles genau wie in der Liebe. Da kann ich auch keine Hoffnung haben. Jeder Funken Hoffnung ist Sinnlos und führt nur dazu, dass ich weiter verletzt werde. Niemand kann so ein hässliches, dummes, fettes, Stück Dreck wie mich lieben.
Das muss mir immer völlig klar sein, eigentlich.
Trotzdem versuche ich es immer wieder, dass es klappen könnte, dass sich für mich was Ändert. Obwohl alles nur noch schlimmer wird. Immer wenn es scheint, ich hätte Erfolg muss ich immer wieder ganz von Vorne anfangen.
Mein Leben ist wie die Aufgabe von jemandem, der einen Felsbrocken einen Berg hinauf rollen muss, welcher immer kurz vor der Spitze wieder ins Tal rast. Eigentlich eine völlig sinnlose Aufgabe, die dafür sorgt, dass das ganze Leben seinen Sinn verliert.
Mir ist es eigentlich völlig klar, dass es so ist. Besonders wenn ich wieder mal aufgegeben habe.
Trotzdem probiere ich immer wieder, obwohl ich genau weiß, es gibt nicht einmal einen kleinen Funken Hoffnung. Ich bin sowas von dämlich.
Vielleicht ist dies aber auch bei jedem Menschen so.
Vielleicht ist dies die eigentliche Tragödie der menschlichen Existenz.
Ein jeder hechtet etwas nach, was er nie erreichen kann und macht einfach weiter, obwohl er immer nur enttäuscht wird. Vielleicht ist dies aber auch die einzige Möglichkeit, das Ganze zu ertragen.
Die einzige Möglichkeit, sich vorzugaukeln, es bestünde wenigstens in ferner Zukunft irgendeine Chance, das Ziel zu erreichen. Einfach um nicht realisieren zu müssen, wie Sinnlos die eigene Existenz doch eigentlich ist und das man keine Chance hat.
Vielleicht ist mein Handeln auch die einzige Möglichkeit, meine Seele vor dem Abrutschen in die ewige Dunkelheit zu retten.
Während ich wartete in diesem Tal des Schattens des Todes, realisierte ich eigentlich, wie ausgeliefert ich dieser inneren Dunkelheit eigentlich in Wahrheit doch immer noch war.“
Nach einer Weile stand Karala auf, doch sie sah etwas auf dem Boden. Es war ein Raabe, der irgendwie in die Haltestelle geriet und dort scheinbar qualvoll verreckt war.
Verreckt war wirklich das einzige Wort, was auf den Anblick passte.
Der Vogel lag mit gebrochenem Flügel in einer rötlich, bräunlich, schwarzen Pampe, in der mehrere abgefallene Federn festklebten.
Ein widerwärtiger Anblick, der in Karala Erinnerungen wachrief. Erinnerungen schrecklicher Natur, die sie eigentlich loswerden wollte. Die sie verdrängen wollte um dies nie wieder erleben zu müssen.
Dies funktionierte aber nicht, stattdessen wurde sie förmlich Tag Ein Tag aus von ihnen Verfolgt, ohne ihnen entrinnen zu können. Bei der kleinsten Ursache, bei der kleinsten Ähnlichkeit zu dem Ereignis kamen sie mit Macht wieder hoch und hielten Karala in ihrem Würgegriff.
Sie konnte nichts sagen, obwohl sie eigentlich schreien wollte. Sie blieb einfach stehen und ging langsam, angstvoll nach Hinten.
Auf einmal sackten ihre Beine zusammen, ihr Oberkörper fiel nach Vorne und ihr wurde Schwarz vor Augen.
Ihre Atmung war nur noch ganz langsam.
Sie sah einen tiefschwarzen Raum ohne Grenzen oder Inhalt. Nach kurzer Zeit sah sie weiße Kritzeleien im Schwarz.
Es ist alles deine Schuld.
Alles passierte nur wegen dir.
Mörderin
Nur wegen dir sind sie tot.
Die Wahrheit ist nicht auslöschbar.
Du bist schuld.
Du bist böse.
Einige Zeit später sah sie ein altes Foto. Es zeigte sie bei ihrem ersten Schultag, zusammen mit ihrer Mutter. Es war scheinbar ein heller Tag. Überall blühten die Kirschbäume üppig. Sie stand vorne und lächelte.
Ihre Mutter Anima stand hinter ihr und umarmte sie mit einer Hand.
Der Wind wehte einige Kirschblüten von den Bäumen, wie ein Symbol, dass diese schöne Zeit schon Bald vorbei sein würde. Als ob das Glück schnellstens den Weg des Vergänglichen gehen würde und genau so weggeweht werden würde vom Leid, wie die Kirschblüten vom Wind.
Plötzlich fing das Bild, was Karala sah mitten drin an zu brennen. Während es immer mehr verkohlte hörte Karala eine Lautsprecherdurchsage, wie in einem Krankenhaus:
„…. Die Kleine Karala Yagiyu soll bitte in das Sprechzimmer 3 dieser Etage gehen.“
Danach wurde wieder alles Schwarz.
Ein Mann kam langsam in Richtung von Karala. Sein Gesicht konnte nicht erkannt werden, weil es so dunkel war. Einzig die Brille funkelte in einem bedrohlichen Weiß. Der Arztkittel des Fremden wurde von Unten in ein bedrohliches, rotes Licht getaucht.
Der Fremde kam schnell näher. Bei jedem Schritt schien die Erde zu beben. Die Lauten Geräusche machten Karala Angst. Sie Atmete schneller. Ihr Pulsschlag war laut und deutlich zu hören.
Nach einer Weile fing der Fremde an zu sprechen. Seine Stimme hatte einen riesigen Nachhall. Sie klang dunkel, laut und angsteinflößend.
Er sprach langsam:
„Na meine kleine, bist du Karala?“
Karala schaute sich verängstigt um. Leise und Schüchtern bejahte sie das.
Was wollte der Fremde von ihr?
Was hatte er vor?
Warum war er da?
Karala war diese Person mehr als Unheimlich. Sie wollte sofort weglaufen, aber ihre Beine bewegten sich nicht.
Sie versuchte alles, aber sie bewegten sich einfach nicht.
Egal was sie machte, sie blieb einfach stehen.
Der Fremde fing wieder an zu sprechen:
„Du bist also Karala, die Tochter von Anima und Aralak Yagiyu.
Es tut uns leid, aber wir müssen dir es sagen. Die Tests haben positive Ergebnisse gehabt. Deine beiden Eltern sind tödlich krank und ohne Behandlung werden sie in den nächsten 6 Monaten Sterben.“
Da, in genau diesem Moment Begann der Arzt laut zu lachen. Es war eine unheimliche, wahnsinnige Lache.
Karala war der Panik nahe, wie man ihr anmerken konnte.
Der Fremde sagte auf einmal hämisch, laut:
„Tja meine Kleine, das ist alles nur deine Schuld. Merke dir es. Du bist Schuld am Tod deiner Eltern. Nur du allein. Alle haben ja gesagt, du sollst ein braves, artiges Kind sein, aber du warst ja immer Böse und Unmoralisch. Deshalb musst du jetzt deine gerechte Strafe empfangen. Im Namen der Gerechtigkeit muss deine Bosheit gesühnt werden. Kapiert? Wärest du ein guter Mensch, dann müssen deine Eltern nicht diese Höllenqualen durchleiden.
Du bist Schuld. Du bringst allen nur Schmerz, vor allem deinen Eltern.“
Karala fing in dem Moment laut an zu schreien. Sie rief immer wieder:
„Was habe ich getan, um das zu verdienen?“
Der Arzt antwortete nur: „Alles. Niemand kann dir sagen, warum du Böse bist. Alles an dir ist einfach schlecht. Deine ganze Existenz. Und deshalb hast du es nicht besser verdient, als deine Eltern Sterben zu sehen. Es ist alles nur deine Schuld. Nur deine Schuld. Du bist eine Sündhafte Existenz. Das siehst du ja auch daran, dass seine Eltern jetzt sterben. Das dir sowas widerfährt ist jawohl der beste Beweis, dass du Böse bist.“
Trennungsangst.
Auf einmal wurde der Fremde aber ganz ruhig und sagte: „Es gibt aber noch eine Möglichkeit, sie zu retten. Uns bleibt keine andere Wahl. “
In diesem Moment hörte man ein Maschinengeräusch, was immer lauter wurde.
Was war das?
Der Arzt sprach weiter: „Wir müssen…“
In diesem Moment lief der Arzt etwas zurück, nahm Anlauf und zückte eine Motorsäge.
Die Motorsäge glänzte stark. Man konnte genau die schnelle Bewegung der Zacken sehen, die sich zu diesem infernalischen Geräusch der Maschine bewegten.
Was passierte da bloß?
Der Arzt hielt sich die Säge vor den Kopf und lief unaufhaltsam in Richtung Karala.
Dabei schrie er laut:
„AMPUTIEREN“
Karala Schrie laut: „AAAAAAAAAAAAAAAAH. Hilfe.
Bitte.
Bitte tut das nicht.
Ich habe diese Krankheit nicht. Mir muss nichts amputiert werden.
Bitte nein. Ich sterbe auch lieber als das mir etwas amputiert wird.
Aufhören, Bitte.“
Genau in dem Moment machte sie in der Realität wieder ihre Augen auf. Der ganze Flashback schien vorbei zu sein. Die Halluzinationen waren verschwunden.
Keine Kettensäge weit und breit.
Trotzdem fühlte sich Übel. Die Gedanken an den Tod ihrer Eltern gingen ihr nicht mehr aus dem Kopf. Sie konnte nicht anders als darüber zu grübeln. Egal wie weh ihr das tat.
Oh fortuna, mecum omnes plangite.
Während dessen war die Situation mit den Caine vollends eskaliert. Mehr und mehr Vorfälle passierten. Immer mehr Menschen wurden auch in den Wahnsinn getrieben, durch die Abscheulichkeit, welche die Stadt schon seit Stunden heimsuchte und dabei war, ein existentieller Alptraum für die Menschheit zu werden.
Verzweiflung und Blut sprossen wie eine apokalyptische Flut, die dabei war, den Geist der gesamten Menschheit zu zerbrechen und zu verschlingen.
Man fand sich in einem von dunklen Schatten gesäumten Wald aus Angst, Blut und Verzweiflung wieder, bei dem man den klaren Weg nach Draußen schon lange Verloren hatte.
Es war nur noch 6 Stunden bis die Dekontaminierung der Stadt beginnen sollte.
Viele Techniker in Strahlenschutzanzügen bestiegen LKWs um zu weiteren Einsatzorten zu fahren, in der verzweifelten Hoffnung, doch noch irgendwas zu finden, was man gegen die Bedrohung nutzen konnte.
Sie fuhren durch die schier endlose, regnerische Nacht. Ihre Autos spritzten das Wasser weit von sich weg.
Alle Autos kamen durch ein zerstörtes Gebiet. Die Ruinen der Gebäude waren eingezäunt. Überall ragten riesige Trümmer in der Gegend.
Einige Trümmer wirkten fast wie riesige Kreuze eines zukünftigen Friedhofs der Menschheit.
Am Rand sahen die Wissenschaftler große, blaue, kastenförmige Gebäude, deren Dächer nur noch ausgebrannte Stahlgerüste waren, die bedrohlich in der Landschaft standen, wie Mahnmale und Vorahnungen an einen möglichen Untergang der menschlichen Technik.
An einigen dieser Kästen waren Menschen mit Strahlenschutzanzügen dabei, Trümmer zu untersuchen.
Im stockfinsteren Gebiet wurden Teile von mehreren grellen Lichtkegeln von Scheinwerfern erhellt.
Das ganze Areal war eine unheimliche Gegend geprägt vom Verfall. Nirgendwo sonst war das Damoklesschwert der menschlichen Zivilisation so sichtbar wie in diesem Gebiet.
Oh Fortuna, mecum omnes plangite.