Original von Fleetadmiral J.J. Belar
So lieber Max,
ich habe mir gestern Nacht Cherem zu Gemüte geführt und muss sagen, die Geschichte hat mich zwiegespalten zurückgelassen. Von der Wortwahl und der düsternen, detaillierten Beschreibung her war ich total begeistert, doch leider war die Geschichte schon zu ende, als sie gerade angefangen hat. Du lässt den Leser leider fragestellend zurück. Das ist ansich nicht schlecht, vorallem wenn es eine Fortsetzung geben soll, aber da es sich da ja aller Wahrscheinlichkeit nach um eine Standalone Geschichte handeln soll, kann ich mit dem Ende leider nichts anfangen.
Danke fürs Lesen, Belar
Es freut mich, dass Dir die Beschreibungen gefallen haben. Dass am Ende viele Fragen übrigbleiben, finde ich gar nicht verkehrt. Es ja sozusagen \"Teil meiner Politik\" beim Schreiben, wenngleich ich natürlich einige Punkte, die für meine Geschichten jeweils wichtig sind, schon auch noch in den Geschichten kläre. Dennoch empfinde ich es als eigentlich unbedingt nötig, mit einer Botschaft und einer \"Aufgabe\" aus einer Erzählung entlassen zu werden und deswegen bemühe ich mich, dass auch in meinen Texten so zu handhaben.
Original von Fleetadmiral J.J. Belar
1. Die Regierung schiebt arbeitslose an die Aliens ab, damit diese dann für sie arbeiten? Hab ich das richtig verstanden? Wenn ja, dann finde ich die gesellschaftskritische Aussage und die Gefahr, die du aufzeigst, wenn eine Gruppe unerwünscht ist richtig gut. Da ich in dieser Situation stecke, die auch Elizabeth mit mir teilt, kann ich dir aus erster Hand sagen, was ich tun würde. REBELLIEREN und KÄMPFEN. Lieber würde ich mich erschiessen lassen, als zwangsumgesiedelt und womöglich noch versklavt zu werden. Elizabeth geht einen anderen Weg als ich ihn gehen würde. Irgendwie wirkt sie gebrochen, resigniert und gefügig aber vorallem machtlos. Das bekommst du gut rüber. Toll gemacht.
Es ist der Staat und auch wirklich zunächst ausschließlich der Staat, der in \"Cherem\" so mit seinen Bürgern umgeht. Um es mit Nietzsches \"Zarathustra\" zu sagen: \"Staat, wo der langsame Selbstmord Aller - \'das Leben\' heißt\". Der Staat dieser düsteren Zukunft teilt die Bevölkerungsschichten ein und sorgt für ihre zwangsweise Umsiedlung in die jeweiligen Distrikte/Stadtviertel/Zonen, die letztendlich für die Betroffenen kaum zu etwas anderem führen können als den persönlichen Untergang.
Die Reaktion, dagegen ankämpfen zu wollen, mag uns vielleicht nicht unnah liegen, aber wir sind auch keine Kinder jener Gesellschaft. Wahr ist leider, dass in der Geschichte der Menschheit vielen Personen(gruppen) noch weit schlimmeres angetan wurde, als hier in \"Cherem\" angedeutet wird, und trotz all des Leids konnte es damals nicht zum Aufbäumen kommen. Gott sei Dank leben wir in der Bundesrepublik Deutschland und können die Freiheit genießen und kennen - trotz aller Probleme und trotz aller Tendenzen, die es wirklich kritisch zu beleuchten gilt und im Sinne von \"Währet den Anfangen\" nicht ignoriert werden sollten. Um seinem Namen gerecht zu werden, wäre es mehr als nur wünschenswert, wenn der deutsche Sozialstaat findiger wäre um seinen Bürgern besser helfen zu können; hier ist die Science Fiction wirklich ein gutes Mittel zur Kritik -, trotz aller Probleme herrscht nicht das Klima einer Angst, die absolute Hörigkeit oder zur Untätigkeit zwingende Resignation in unsere Seelen planzen könnte.
Das aber ist die Welt von Elisabeth und es ist ihre Welt, weil sie die vollkommene Isolation immer schon spürt aber erst gegen Ende im Gespräch mit Lea in eine konkrete Symbolik fassen kann. Elisabeth ist bereits gebrochen, denn - das darf man ja nicht ganz vergessen - chancenlos ist sie nicht. Sie könnte ja, wie Lea ihr vorschlägt, eine Pseudo-Stellung (auf Zeit) akzeptieren, um nicht deportiert zu werden. Die große Kluft, die zwischen ihr und dem Leser besteht, der sich fragt, warum sie denn nicht so oder wenigstens irgendwie anders handelt, ist Teil der Distanz die wir zu dieser Zukunft haben und die uns Elisabeths Isolation eher stärker als schwächer vor Augen führen.
Die Rolle der Außerirdischen ist nicht völlig klar, dazu erfahren die Bürger ja auch zu wenig direkt, um es einschätzen zu können. Jonas\' Vermutungen sind deswegen nicht von der Hand zu weisen oder ganz zu widerlegen. Auch eine Versklavung durch die Fremden mit Einverständnis des Staates wäre durchaus denkbar, obwohl die eigentlichen Zeugnisse des außerirdischen Wirkens in dieser Geschichte den Schluss näher legen, dass sie wirklich rettend auftreten.
Original von Fleetadmiral J.J. Belar
2. Der Nachbar: Warum schiesst der auf Katzen und warum läuft er nicht Gefahr zwangsumgesiedelt zu werden? Der wirkt auf mich eher wie ein typischer in den Tag lebender Mensch.
Warum quälen Menschen andere Lebenwesen? Ich bin noch nicht dahinter gekommen, aber leider gibt es soetwas und leider braucht es bei manchen noch nicht einmal fadenscheinige, widerliche Motive, wie hier beim Nachbarn, wenn er sagt, ihn störe das Miauen. Dass der Nachbar auf die Katze schießt, ist Ausdruck dessen, wie sehr diese zukünftige Gesellschaft das Leben verneint und mit dem Tier sterben für diese Welt auch seine positiven Attributen wie Schön- und Freitheit.
Dass er noch nicht abtransportiert wurde, kann nur bedeuten, dass er in den Augen der Entscheider einen Zweck erfüllt. Ich gebe zu, hier hätte ich noch mehr schreiben können oder sollen. Denkbar wäre in jedem Fall dass er als Spitzel für das Viertel arbeitet, aber auf der anderen Seite könnte man ihm durchaus dann eine bessere Tarnung verschaffen. Aber gerade bei einer Gesellschaft, die so \"erkrankt\" zu sein scheint, muss eine Person wie dieser Nachbar nicht automatisch jenseits der Erwerbswelt stehen (während gleichzeitig ein hübsches, intelligentes, junges Mädchen daran gescheitert ist).
Original von Fleetadmiral J.J. Belar
3. Die Aliens: Was wollen sie? Wird das jetzt ne Invasion unter falschen Versprechungen oder doch eine Starthilfe für den Planeten, um Teil der intergalaktischen Gemeinschaft zu werden? Das mit den allpräsenten Untertassen und dem Licht fand ich spitze. Hat mich an die SciFi Klassiker der 50er und 60er erinnert. Irgendwie schwebten sie über der Geschichte wie ein Damoklesschwert. Sehr gut. Dennoch hätte ich mir von den Aliens mehr erhofft.
Wie ich schon bei Lairis geschrieben habe: Mit den Außerirdischen hatte ich einige Probleme, weil ich sie vollkommen fremdartig (und häßlich) beschreiben und gleichzeitg feststellen wollte, dass sie nicht zu beschreiben sind, weil sie für den Menschen irgendwie nicht zu begreifen sind. Ich weiß nicht, ob ich dafür eine bessere Lösung gefunden hätte, wenn ich dafür über den Abgabetermin hinaus Zeit gehabt hätte.
Ihre Motive sind nicht ganz klar, aber ich habe die Geschichte schon unter der Prämisse geschrieben, dass sie tendenziell wirklich gut sind und beim Schreiben auch versucht, mich nicht von bisherigen Konzepten (wie der Föderation in ST) leiten zu lassen. Ähnlichkeiten im Auftreten zu Filmen der 50er fände ich aber eigentlich sehr schön, weil die Science Fiction damals irgendwie puristischer aber mit sehr einprägsamen Bildern rüberkam.
Dass man sich ihrer Motive nicht ganz sicher ist, finde ich nicht so schlimm, denn es tangiert die Botschaft nicht direkt.
Original von Fleetadmiral J.J. Belar
4. Zum Verständnis: Die Geschichte spielt in der BRD oder? Jetzt würde es mich dann im Falle eine Ja interessieren, was aus dem Grundgesetz Artikel 1 geworden ist.
Wie ich zu Lairis schrieb, habe ich die Namen zunächst einmal nach ihrer Herkunft gewählt, aber ein paar schieden aus, denn ich wollte noch etwas anderes erreichen: Praktisch alle Namen könnten so in den USA auftauchen und in Deutschland und in dem ein oder anderen sonstigen Land der Welt auch. Sie sind nicht zu 100% zuzuordnen.
Ich will also gar nicht mal sagen, dass das in der Geschichte die Bundesrepublik ist, schon allein weil ich natürlich nicht hoffe, dass ein Staat mit den Anlagen unseres Staats in soetwas abgleiten kann. Jenseits aller realistischen Möglichkeiten wissen wir aber leider wie unkompliziert der Lauf der Geschichte dazu führen kann, dass rechtsstaatliche Normen und gesellschaftliche Erungenschaften aufgegeben werden.
Original von Fleetadmiral J.J. Belar
5. Der Gedanke ist rein subjektiv: Aber irgendwie wirken Elizas Freunde nicht wie wahre Freunde auf mich. Höchstens die Dame mit der sie in die Hütte fährt. Über die Trennung von Tom (?) hätte ich gerne mehr erfahren. Hätte der Personentiefe gut getan.
Für die Kurzgeschichte und speziell für diese fand ich es so eigentlich ganz okay. Im Nachhinein gefiel mir das Spiel mit den Beziehungsebenen in \"Was wir hassen\" so sehr, dass ich es - obwohl diese Geschichte stilisitisch ja anders ist - auch in \"Cherem\" irgendwie einsetzen wollte. Es genügte mir, ein paar Andeutungen zu streuen; wenn Elisabeth Toms Reaktionen relativ genau wahrnimmt. Natürlich hätte man erfahren können, warum z.B. die Beziehung auseinander ging und auch das hätte so gesaltet werden können, dass es zur Botschaft passt. Aber ich wollte es nicht übertreiben und es beim Hinweis belassen.
Einerseits kann man sagen, dass gerade so eine Gesellschaft doch den Rückzug ins Private (Partner und Freunde) fördern müsste, anderseits erkennt man, wie wenig automatisch das der Fall sein muss, gerade wenn viele isolierende Faktoren vorhanden sind. Vielleicht ist Lea auch wirklich Elisabeths einzige Freundin, vielleicht hat sie gar keine wahren Freunde (außer Lea).
Original von Fleetadmiral J.J. Belar
6. Das Blatt Papier: Schlicht genial. Diese Passage hat mich zum nachdenken angeregt und deine Schlussfolgerung teile ich völlig. Egal wie nah man Menschen an sich ran lässt, man ist immer doch alleine in seinem Universum und man weiß nie absolut genau, was in seinem Gegenüber vor geht.
Danke schön
Es freut mich zu lesen, dass die eigentliche Botschaft der Geschichte so gut eingeschlagen ist
Ich selbst weiß gar nicht, wie sehr ich die Schlussfolgerung teile; ganz bestimmt wünsche ich mir, die Erfahrung machen zu können, Elisabeths Erkenntnis sei falsch. Vielleicht - hoffentlich - gibt es eine Form der Liebe, in der man diese Trennung, diese parallele Welt nicht spürt.
Im anderen Fall wäre die Botschaft von \"Cherem\" damit mehr als nur deprimierend. Doch da kommt die letzte Wendung. Denn mit der Erlösung in materiellen Punkten (Wirtschaft, Energie usf. und damit auch Frieden) bringen die Außerirdischen auch eine den Menschen vollkommen unnatürliche Aufhebung der trennenden Welten. Vergegenwärtigt man sich den letzten Satz kann man nicht anders, als diese Entwicklung nicht gut zu finden, was wiederum ein wenig Hoffnung für die andere Weltwirklichkeit - die vielen parallelen Welten - gibt. Das Individuum versteht den anderen nicht, aber deswegen muss es sozial nicht scheitern.
Original von Fleetadmiral J.J. Belar
FAZIT: Alles in allem eine tolle Geschichte, nur für meinen Geschmack zu dünn. Mit 200 Seiten mehr, könnte da eine richtig geniale moderne SciFi Opera drauß werden. Wäre ein Gedanke wert, wie ich finde.
Danke für die Einschätzung
Ich persönlich habe das Gefühl, ich würde der Idee und den Anlagen der Geschichte sehr schaden, wenn ich sie über den gewählten Umfang hinaus aufblähen würde. Ich habe nämlich ein bisschen die Befürchtung, Beschreibungen von Personen und Begebenheiten könnten leiden: Führe ich sie subtil weiter aus, fehlt die atmosphärische Dichte, erzähle ich aber \"mit Härte\" weiter, würde alles schnell in einen gekünstelten Zustand abgleiten. Vor kurzem habe ich einen Roman von Philip K. Dick gelesen und obwohl er schon gut war, habe ich mir am Ende gewünscht, Dick hätte aus dem Stoff lieber eine satte Kurzgeschichte gemacht.
Intuitiv meine ich, \"Cherem\" ist in der Erzählform, wie sie jetzt vorliegt, gut aufgehoben.