IX
Es ging wieder los. Monate war er nun inzwischen verschont geblieben; immer hatte er sich vor dem Moment gefürchtet, da es ihm das erste Mal als Captain heimsuchen würde. Gewöhnlich hatte Doktor Ter-Nedden immer einen Zusammenhang mit Stress ausgeschlossen, schon früher fand Jonas das irgendwie bedauerlich, auch jetzt, denn er stand unter Stress: Ein Mitglied seiner Mannschaft hatte eine Beziehung zu einer Einheimischen begonnen und sollte nun deswegen hingerichtet werden. Die körperlichen Anzeichen bei Jonas waren eindeutig; der Blutdruck stieg etwas, er bekam leichte Gänsehaut – obwohl dies auch ein Schaudern vor Angst sein konnte. Vor allem aber pochte ihm das Blut in den Adern, in den feinsten Äderchen des Gesichts, an Stellen der Wangen, wo er vormals gar nicht angenommen hatte, der Mensch besäße sie dort. Das Pochen wurde stärker, hielt sich auf hohem Niveau nur kurz, um schließlich mit Wärme auszuschleichen. Dann setzte das Gefühl des Juckens ein, eine Empfindung, die er besonders verabscheute, nicht nur, weil sie enervierend störte. Jetzt, das war ihm klar, würde sich entlang einiger Gesichtsäderchen eine Verfärbung abspielen. Es würden dort Male entstehen, in Form von simplen Gewitterblitzen oder Flussverläufen aus großer Entfernung. Von früher war ihm noch bekannt, dass sie orange, rot, violett oder blau sein konnten; wie sie jetzt aussahen, wusste er nicht. Wie beinahe immer, so konnte er sich auch dieses Mal nicht beherrschen und tastete mit den Fingern beider Hände, die juckenden Stellen beider Wangen ab, um die Veränderung irgendwie zu erfühlen und auch, wohl gerade jetzt, um den epidermalen Wandel schamhaft zu verstecken. Es war eine ganz intuitive Handlungsweise, die er nach den ersten Momenten dieses Überfalls, wie er es empfand, gleich wieder aufgab. Wenn er etwas von den wenigen Ausbrüchen bisher gelernt hatte, dann das, dass er in seiner eigentlichen Leistungsfähigkeit durch sie nicht sonderlich beeinträchtigt wurde. Als benötige er diese Legitimation, fiel ihm auch das kurze Gespräch mit dem Admiral und die Versicherungen von Leuten wie Ter-Nedden ein, die ihm weiterhin volle Diensttauglichkeit – auch für den Posten des Raumschiffkommandanten – bescheinigten. Die Blicke, die er nun nach links und rechts warf, waren anderer Natur. Er war mehr genervt als verunsichert. Zu den Automatismen, die jeden dieser Anfälle begleiteten, gehörte auch ein mal stärker mal schwächer empfundener Zorn; Jonas lehnte sich stets aufs Neue gegen das Ereignis von damals auf, dem er diese Male verdankte. Maahzel, Lhaazel und den anderen konnte die Veränderung nicht verborgen bleiben. Der Häuptling wurde still, im Hintergrund regte sich jedoch immer lebendiger werdendes Getuschel. Jonas kannte Menschen, auch Leute in seinem Rang, die diese Situation mit einem Scherz überspielt hätten, andere hätten einen derartigen Anfall dramatisch in Szene zu setzen versucht; er selbst hob bereits zu einigen knappen aber klaren Worten der Erklärung an, doch das war nicht nötig. Das Gemurmel aus den hinteren Reihen wurde sukzessive weniger, Jonas hatte sogar den Eindruck, die Eingeborenen, von denen es herrührte, wichen etwas von ihm zurück. Maahzel indes trat einige Schritte auf ihn zu. Er sprach leise einige Formeln vor sich hin, die der Universalübersetzer entweder nicht verstand oder in der Ausgabe bloßer Worthülsen für sinnvoll befand. So nah stand der Häuptling inzwischen am Sternenflotten-Kommandanten, dass er ihn mit Leichtigkeit berühren konnte und tatsächlich streckte er seinen linken Arm aus, faltete aus der eben noch geschlossenen Faust langsam die Finger aus und wollte mit Zeige- und Mittelfinger die rechte Wange seines Gegenübers berühren. Jonas setzte einen Schritt zurück, doch Maahzel folgte ihm und nach dieser ersten intuitiven Flucht blieb der Captain stehen und ließ den Fremden gewähren. Die Berührung war weder angenehm noch das Gegenteil; der Häuptling strich mit den Fingerkuppen zwei-, dreimal über die Stellen der Wangen, an denen Jonas die Male vermutete, und wandte sich dann halb ab. Mit den Lippen formte er zwei, drei Worte, die Jonas nicht verstand, presste dann den Mund mit der Mimik eines zufriedenen Nickens zusammen. Ein paar Indigene, vor allem ältere, hoben einen nicht lauten, dafür aber sakral-feierlichen Lobgesang an. Eine merkwürdige Trance erfasste nun alle Einheimischen, in der es der Doktor wagte, langsam zum Captain zu schreiten und sich flüsternd mit ihm zu unterhalten.
»Wie geht es Ihnen?«, war seine erste Frage, Jonas winkte nur ab.
»Seltsam, nicht wahr, Doktor?«
»Ja. Man könnte meinen...«, hob Ter-Nedden an, ließ den Satz aber grundlos offen.
»Das kann schlecht für uns werden, oder aber uns in die Karten spielen.«
»So ist es meistens«, entgegnete Ter-Nedden scherzhaft, wurde aber sofort wieder ernst. »Wir wissen von ihnen zu wenig. Ich musste nur gerade an Derrida denken. Egal. Es darf uns jedenfalls nicht überraschen, wenn diese Leute dem, was mit Ihnen passiert ist, eine zeichenhafte Bedeutung beimessen.«
Jonas nickte, überließ das Reden jedoch dem Doktor und beobachtete stattdessen die Umgebung. Es war, so befand er nun, weniger eine Trance, als vielmehr ein verzückter Wachzustand, in dem sich die Einheimischen befanden – wie eine bescheidene Feier, in der sie sich nicht stören ließen.
»So eine Veränderung«, meinte der Doktor; er sprach immer leiser, »kann natürlich wie etwas Göttliches gedeutet werden. Wir sehen es als Symptom einer Krankheit, ich sehe aber keinen Anhaltspunkt, dass es von deren Seite ähnlich oder irgendwie negativ aufgefasst wurde. Mal sehen, was daraus wird.«
Minuten mochten inzwischen vergangen sein, nach und nach löste sich die Versammlung auf, sodass am Ende nur noch Jonas, Ter-Nedden und etwa ein Dutzend Indigene, unter ihnen Maahzel und Lhaazel, in der Hütte übrig blieben.
»Die Lage hat sich geändert«, verkündete Maahzel.
Der Doktor zwinkerte Jonas zu.
Effektvoll warf der Häuptling einen Vorhang zur Seite, der für diesen Hüttenraum als Türe fungierte.
»Jonas«, sprach er einigermaßen festlich, »wir haben das Zeichen gesehen und ich entscheide daraufhin: Die Hinrichtung wird verschoben. Ein solches Zeichen kann nicht übergangen werden.«
Jonas, der sitzen geblieben war, hielt den Kopf immer noch nach vorne gerichtet und sah mit den Augen von unten herauf.
»Es«, begann er nun zu sprechen, »ist nun die Frage, was Sie aus diesem Zeichen machen wollen...«
»Es ist mir durchaus bewusste, dass Sie, Jonas, damit nicht das gleiche verbinden wie wir, für Sie ist es nur eine Erscheinung von vielen.«
Jonas hätte ihm widersprechen können, den die Aussage des Indigenen deckte sich kaum mit seiner inneren Befindlichkeit zu diesem Thema; von Bedeutung war das jetzt aber nicht. Maahzel sprach weiter.
»Williams kann sich freuen: Sie bekommen die Möglichkeit ihn zu retten.«
Jonas stand auf.
»Wie?«
»Er wurde verurteilt, weil er die Verbindung mit Jumi gesucht hat. Das aber ist nur dann erlaubt, wenn er sie liebt.«
Jonas wollte gerade nachfragen, wie der Häuptling sich so sicher sein könne, dass das nicht der Fall sei; seine Male durchfuhr in diesem Moment aber ein leichtes Brennen und so als wolle er sich von einem lästigen Insekt befreien, wischte Jonas reflexartig über seine Wange; schon hatte Maahzel weitergesprochen.
»Reden Sie mit Williams.«
»Wie ist er zu retten?«
»Reden Sie erst mit ihm, wir werden uns in einigen Augenblicken wieder hier treffen – dann das übrige.«
Maahzel wies mit der Hand zum Vorhang. Des Rätsels Auflösung würde also noch auf sich warten lassen.
Williams sah nicht gut aus. Körperlich schien er unversehrt, doch die Aussicht auf die drohende Hinrichtung hatte psychische Spuren hinterlassen.
Jonas, Maahzel und eine Wache betraten den Raum, der Häuptling flüsterte dem Captain einige unbedeutende Worte zu und verschwand wieder; der Bewacher blieb.
Sofort sprang Williams auf, mit nur drei, vier Schritten stand er schon bei seinem Kommandanten.
»Sir!«
»Mister Williams, wie geht es Ihnen?«
»Sie haben mir noch nichts getan, aber ich weiß nicht wo Jumi ist.«
»Ihr wird nichts geschehen sein.«
»Captain, hören Sie!«, nun senkte der Commander die Lautstärke seiner Rede und schlenderte wie beiläufig in eine andere Ecke des Raums. Tatsächlich folgte die Wachen den beiden Sternenflottenoffizieren nicht.
»Captain: Wir sind zwei gegen einen. Da ich schon länger hier bin, kenne ich mich ein wenig aus. Uns gelingt es sicher, ihn niederzuschlagen. Dann müssen wir einfach durch den Durchgang, aus dem Sie gekommen sind, hinaus; nach dem nächsten Durchgang sind wir bereits draußen. Nach Westen kommen wir am schnellsten aus der Siedlung. Jumi wird sicher in einer der Hütten in der Dorfmitte festgehalten. Reev steht doch sicher schon mit einem Team bereit? Mehr als eine Handvoll Bewacher wird sich uns nicht in den Weg stellen.«
Williams war kaum zu bremsen. Obwohl er wusste, dass sie nicht viel Zeit haben würden, ließ der Captain seinen ersten Offizier aussprechen.
»Mister Williams. Ich weiß nicht noch wie, aber Maahzel sagte, ich bekäme Gelegenheit Sie zu retten.«
In Williams’ Blick war eine eigenartige Form von Staunen festzustellen. Natürlich war er davon ausgegangen, dass es einen Weg zu seiner Rettung geben würde. Die Bedrohung seines Lebens war real, das hatten sie gesehen. Erwartet hatte er ein Rettungsmannschaft, die mit Phasern bewaffnet die Hütte stürmen würde, um ihn noch vor der dramatischen Stunde aus dem Dorf zu bringen. Es war diese Gemütslage als Mischung aus Vertrauen in die Sternenflotte und Todesangst, die ihn für eine weitere Alternative eigentlich nicht zugänglich machte. Beschreibbar wäre sein Empfinden in diesem Moment wohl auch damit gewesen, dass er voller Unverständnis die Reaktion seines Kommandanten aufnahm, der scheinbar den Weg zur Rettung in einer Illusion, im Handel mit den Fremden, suchen wollte.
»Mister Williams, beantworten Sie mir folgende Frage: Lieben Sie Jumi?«
»Sir?«
»Sie sollten nicht annehmen, dass wir viel Zeit hätten, also beantworten Sie mir die Frage. Sie ist ernst gemeint.«
Commander Williams zögerte; nicht, weil ihm die Antwort schwer fiel.
»Ja, Captain, das tue ich«, entgegnete er schließlich.
»Nun gut, diese Sache wäre geklärt.«
Verwirrt sah Williams vor sich hin, sein Blick fiel auch auf die Male in Jonas’ Gesicht. So als sei es diesem unangenehm, einem anderen diesen Anblick zu bieten, wandte er sich ab. Da erschien bereits Maahzel. Ein kleines Zucken überfiel nun Williams – es sollte wohl ›immerhin noch zwei gegen zwei‹ bedeuten, doch Jonas verließ ohne irgendwelche Anstalten zusammen mit dem Häuptling den Raum.
Sie waren nun wieder im vorherigen Aufenthaltsraum.
»Sie haben mit ihrem Mann gesprochen. Nun mein Angebot: Wenn er Jumi wirklich liebt, lasse ich ihn am Leben.«
»Ich weiß, dass er sie liebt«, entgegnete der Captain.
»Eine Aussage genügt hier nicht, Jonas. Sie müssen es beweisen. Sie müssen es mir beweisen.«
»Wie kann ich das beweisen?«, wollte der Captain wissen, erkannte aber sogleich, als er die Worte gesprochen hatte, dass diese Frage sinnlos wenn nicht gar der Sache abträglich gewesen war. Es schien allerdings, als sei Maahzel darüber nicht stutzig geworden; sein Angebot galt.
»Bedenken Sie sich, Jonas. Ich gebe Ihnen einige Augenblicke, wenn ich zurückkehre, erwarte ich Ihre Antwort.«
Der Captain blieb allein zurück.
›Nichts weniger als der Beweis für Liebe!‹, dachte sich Jonas, ›nichts weiter als das.‹ Und während sich so die Ironie seiner bemächtigte, begann er auf und ab zu gehen. Voll Unzufriedenheit schüttelte er immer wieder den Kopf, denn die Absurdität dieser Aufgabenstellung verärgerte ihn; es fiel ihm schwer, Gedanken zu einem Schluss bringen. Die Male juckten.
Es mochten vielleicht vier Minuten vergangen sein, da blieb er stehen und was er eben noch im Geiste gedreht und gewendet hatte, platzte nun aus ihm heraus.
»Nicht die Kinder bloß speist man mit Märchen ab«, lachte er leise. »Nun gut, soll er nur kommen.«
Doch statt Maahzel trat Ter-Nedden plötzlich in den Raum ein.
»Captain!«
»Ja? Ah gut, Doktor!«
»Was hat sich hier ereignet? Wie geht es dem Commander?«
»Noch gut. Hören Sie, Doktor, möglich, dass sich die Sache hier schnell dreht.«
»Und wie?«
»Später. Was ist mit Mister Reev?«
»Ein Team steht bereit. Werden wir es brauchen?«
»Nein. So oder so. Wie ist der letzte Stand: Glaubt Mister Borland, dass er den Transporter funktionstüchtig machen kann?«
Ter-Nedden besah sich die Male, wiederum drehte sich Jonas, diesmal eher ungeduldig, ab.
»Ja, schon gut«, kommentierte Jonas das mit nicht unbeträchtlichen Unwillen; jetzt erst antwortete Ter-Nedden.
»Es gibt keine Möglichkeit zu beamen.«
»Egal. Dann muss es eben anders gehen.«
Die Stimme Maahzels erklang, feierlicher, als die beiden Menschen sie je gehört hatten.
»Jonas. Es ist Zeit für Ihre Entgegnung.«
»Sir?«, flüsterte Ter-Nedden seinem Captain zu.
»Alles in Ordnung. Doktor, gehen Sie wieder hinaus. Befehl an Mister Reev: Nicht eingreifen. Sie haben verstanden?«
»Ja, Sir.«
Obgleich die Blicke Maahzels strenger wurden, war Ter-Nedden nicht zu bewegen, den Raum sofort zu verlassen. Schließlich, beinahe grimmig, ließ er die beiden anderen doch alleine.
»Jonas«, wiederholte Maahzel seine Formel, »es ist an der Zeit.«
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Hintergrund-Informationen zu Kapitel IX
Diese Kapitel beginnt mit einem großen Bruch. Endlich klärt sich das Geheimnis von Captain Jonas wenigstens ein wenig, auch wenn die Zusammenhänge noch im Dunklen bleiben. Die Person, von der Doktor Ter-Nedden im neunten Kapitel spricht, ist der französische Philosoph Jacques Derrida. Die Male in Jonas' Gesicht werden mit Flüssen verglichen und sie ziehen sich über die Wangen: Angespielt wird damit natürlich auf Tränen. Das ist eine Verbindung mit dem Schiffsnamen und steht für eine tiefempfundene Melancholie und Trauer, die den Captain auch in Form von Passivität begleitet.
Es ist ironisch, dass Jonas hier vollkommen passiv eine Veränderung einleitet. Das Zeichen ist natürlich der Rückgriff auf den alten (klischeehaften) Topos des pseudo-göttlichen Auftretens europäischer Entdecker bei Ureinwohnern.
Und wiederum ist Williams isoliert und das obwohl er sich scheinbar typischer Handlungsmuster der Sternenflotte bedient. Aber Jonas denkt gar nicht daran, Williams mit mehr oder weniger gewaltsamen Mitteln zu befreien, sondern hält sich an die Spielregeln, die ihm der Häuptling aufgezwungen hat.
Die eigentliche Aufgabe Jonas' bedient sich einer paradoxen Grundlage: Der Beweis von Liebe - ein Beweis als logisch-mathematische Findung einer unbestreitbaren Wahrheit einerseits, die Liebe als wohl intensivstes und zugleich am schwierigsten herleitbares Gefühl.
Mit den Worten "Nicht die Kinder bloß speist man mit Märchen ab" [S. 55] zitiert Mark Jonas Nathan aus Gotthold Ephraim Lessings Stück "Nathan der Weise" im sechsten Auftritt des dritten Aufzugs, kurz bevor Nathan Saladin die Ringparabel erzählt.