Gleich so viel Reaktion?
Gut, ich habe wenige einleitende Worte gefunden, aber als Kurzgeschichte, die für sich steht, gibt es eben keine Anknüpfungspunkte; und inhaltlich etwas zu verraten, nähme einfach zu viel vorweg.
Vielleicht schreckt auch ab, dass ich einfach nur die PDF in den Anhang gelegt habe. Deswegen entschloss ich mich jetzt dazu, "Lunex" einfach noch mal als Text hier zu posten:
LunexSie nahm ihn noch einmal – ein letzter Versuch – zur Seite.
»Hör zu«, sagte sie leise, als wollte sie nicht, dass jemand anderes es hörte. Das war unnötig, denn die anderen unterhielten sich nicht, sie lärmten. »Wie lange bist du nun schon mit dabei?«
Alexander beugte sich vor.
»Wie bitte?« Die Frage hätte höflich geklungen, hätte er sie ihr nicht zubrüllen müssen. Wahrscheinlich hatte er sie wirklich nicht verstanden. Sie wollte antworten, das hieß, die Frage wiederholen, doch plötzlich schien er begriffen zu haben. Hannah frappierte das. Hatte Alexander sich noch einmal ihre Lippenbewegungen ins Gedächtnis gerufen und daraus ihre Frage rekonstruiert? Hatte er Fetzen verstanden und sich den Rest zusammengereimt? Würde er nur einfach irgendetwas antworten, das in gar keinem Zusammenhang zu ihrer Frage stünde? Gebannt beobachtete Hannah, wie Alexander anhob zu sprechen.
»Ich?«, fragte er knapp und für Hannahs Empfinden zu laut. Ihr kam es vor, als befänden sich die beiden in einem anderen Raum, obwohl sie nur in der seitlichen Sitzgruppe des ›Hauptquartiers‹ saßen, wie ausgerechnet Lydia das angemietete, ehemalige Großraumbüro einer untergegangenen Immobilienfirma getauft hatte. In Hannahs Ohren klang das Lärmen der Anderen wie ein unregelmäßiges, fernes Rauschen. Alexanders Gegenfrage ließ sie freilich ratlos zurück. Sie nickte einfach und eine kurz schreckliche Erkenntnis durchschoss sie: Wie leicht fiel es ihr doch, Fehler zu begehen; wie selbstverständlich gelang es ihrem Naturell nur, anderen einen Freibrief zu geben, von ihr Begonnenes in etwas anderes zu verkehren, sofern ihnen der Sinn danach stehen würde.
Doch diese Gedanken führten zu weit. Denn gleichwohl, ob er sie wirklich verstanden hatte oder nur gut riet, Alexander beantwortete Hannahs Frage.
»Ziemlich lange«, rief er. »Ich glaube, fast von Anfang an. Vielleicht sieben Jahre?«
Hannah nickte erneut. Sie berührte seinen Arm, als wollte sie damit fühlbar machen, um was es ihr ging.
»Und dir ist in all der Zeit nie aufgefallen, dass ich das alles eigentlich anders gemeint habe?«
»Was?«, fragte er und Hannah war klar, dass er sie diesmal gut vernommen hatte.
Es fiel ihr nicht leicht, eine Antwort zu finden. Tatsächlich wusste sie genau, was sie meinte, nur es auszusprechen, schien ihr nicht möglich. Alexander drängelte. »Schnell, sag schon! Komm, sie werden jeden Moment das Ergebnis bekannt geben.«
»Unser Projekt. Das war alles mehr ein… Spaß, verstehst du? Nicht wirklich. Nicht echt. Nicht ernst gemeint. Ich wollte auf was hinweisen, ich wollte das, ich weiß nicht… Satire, verstehst du? Ich wollte, dass die Leute nachdenken… und…«
»Das hast du doch auch geschafft!« Alexander strahlte. Er war so siegengewiss. Im Hintergrund wurde es nochmals lauter. Alexander drehte sich um. Er sprang auf. Hannahs Arm glitt wie unbelebt hinab. Alexander rief etwas, doch Hannah konnte es nicht verstehen, weil er nicht mehr in ihre Richtung blickte. Dann wandte er sich, schon im Wegeilen begriffen, noch einmal um. »Es geht los!«
Hannah erhob sich langsam, wie mit großer Anstrengung, und ging ihm nach.
Ihre Blicke wanderten umher. Viele der Anwesenden kannte sie. Bei den ihr Unbekannten musste es sich um Freunde von Freunden handeln, um Sympathisanten der Idee. Lydia vermochte Hannah nicht zu finden. Sie ging, immer noch langsam, wie eine Schlafwandlerin, in Richtung der großen hellen Leinwand, die extra für diesen Tag, für den anstehenden Moment aufgebaut worden war. Grüppchen umstanden diese Leinwand; Hannah wurde das Bild wimmelnder Motten und Falter nicht los, wie sie nachts Laternen umflattern. Wer nun erst einträfe, hätte es schwer gehabt, noch eine gute Sicht auf das übertragene Bild zu erhalten. Doch Hannah konnte ohne große Mühe bis in die erste Reihe treten, denn die Leute machten ihr Platz, als besäßen sie eine natürliche Ehrfurcht vor ihr.
Es war noch immer laut. Das Bild auf der Leinwand änderte sich. Der Mann, der dort zu sehen gewesen war, schrumpfte zusammen, links baute sich eine Einblendung auf. Zischende Töne im Raum mahnten zur Ruhe. Jemand brüllte etwas. Lange Sekunden vergingen, ehe die wilden Gespräche so weit abgeebbt waren, dass man den Ton der Übertragung hören konnte.
Nüchtern verkündete der Mann alles Wesentliche: Das Abstimmungsergebnis liege vor. Es sei aufgrund der hohen weltweiten Wahlbeteiligung repräsentativ und gültig. Der überwiegende Teil der Regierungen habe noch einmal versichert, man werde das Resultat so akzeptieren, wie es ausfalle, und es für absolut bindend erachten.
Dort war Lydia. Hannah hatte sie endlich entdeckt. Sie stand etwas abseits, am Rand des, ja, halbmondförmigen Kreises, der sich um die Leinwand gebildet hatte, und starrte wie alle anderen auf das große Bild. Ihr Gesicht kam Hannah ungewöhnlich blass vor, doch das konnte auch lediglich am Widerschein der Projektion liegen. Einen Moment überlegte Hannah, ob sie zu Lydia hinüber gehen sollte. Doch alle – auch sie war ein Teil davon – standen wie in einer Formation, die so wirkte, als sollte man sie besser nicht durchbrechen. Mit dem freien Innenraum vor der beziehungsweise um die Leinwand verhielt es sich genauso: In Hannah regte sich ein wahrer Widerstand dagegen, in diesen leeren, hellen, ja weißen Bereich einzudringen, selbst wenn sie ihn nur kurz überqueren würde.
In der neuen Fläche auf der Leinwand, die sich links des Mannes aufgebaut hatte, wuchsen die Balken: Das Abstimmungsergebnis.
Hannahs Herz schlug Protest, sie hielt wie alle anderen den Atem an. Sie verfolgte, wie die zwei Balken nach oben schnellten. Und plötzlich blieb der eine der beiden stehen, der andere aber fuhr unaufhaltsam weiter in die Höhe. Geschrei erfüllte den Raum von einem Augenblick zum anderen, als wären die Menschen rasend geworden. In unbändigem Jubel fielen sich die Leute in die Arme. Jemand stieß Hannah im Freudentaumel zur Seite. Die gespannte Ordnung wich trunkenem Chaos. Hannah versuchte wieder Lydia auszumachen, doch sie erhaschte nur noch einen flüchtigen Blick. Als Spielball der feiernden Masse mäanderte Hannah im noch vor Sekunden wie sakrosankt leeren Bereich vor der Leinwand hin und her. Der Mann auf dem Bild war natürlich nicht mehr zu verstehen, aber ein Laufband mit den wichtigsten Informationen wiederholte sich ständig im oberen Teil der Übertragung. So sehr wurde Hannah umhergeschubst, dass es ihr erst im dritten Anlauf gelang, es zu lesen.
›Mit siebzig zu vierundzwanzig Prozent (sechs Prozent der abgegebenen Stimmen ungültig) stimmt die Weltbevölkerung für die Abschaffung des Mondes.‹
Vor acht Jahren hatte Hannah zusammen mit Lydia die Bewegung ›Lunex‹ gegründet. Lydia hatte noch Scherze über diesen Namen gemacht, weil sie ihn als anzüglich oder vulgär empfand. Hannah hatte das nie ganz begriffen und auch nicht weiter nachgehakt. Für sie bedeutete der Name nichts weiter als ein zusammengesetztes Kunstwort der lateinischen ›Luna‹ und ›ex‹. Jetzt kam es ihr vor, als lägen diese frühen Gespräche eine Ewigkeit zurück. An den damaligen Enthusiasmus erinnerte sich Hannah genau. Nun, noch die Grafik des Abstimmungsergebnisses vor dem inneren Auge, hielt sie gerade diese Begeisterung für die Keimzelle der Gefahr, denn sie glaubte in ihr den Grund ausgemacht zu haben, weswegen sich so viele von ihrer Idee überzeugen hatten lassen und ihnen gleichzeitig nie wirklich bewusst wurde, dass sie, Hannah und Lydia, keine Sekunde die angeblichen Ziele von ›Lunex‹ vertraten. Dann, irgendwann, trieben die beiden nur noch mit. Eine andere Szene, die sich auch in Hannahs Gedächtnis eingebrannt hatte, bewies, dass sie den richtigen Zeitpunkt verpasst hatten, der Welt ihre wahren Motive mitzuteilen: Lydia hatte bei einer Veranstaltung eine Gegenrede zu sonst kolportierten Zielen gehalten: dass man – sie hatte natürlich »wir« gesagt – doch ohne den Mond gar nicht denkbar wäre; dass das Leben, wie man es kenne, doch ohne den Mond sofort verschwände. Bejubelt worden war jedes ihrer Worte und nur in der allerersten Sekunde hatte sich Hannah gefreut, ehe sie fürchterlich erschrak, denn den Beifall begleiteten immer noch die alten Schlachtrufe wie »Der Mond muss weg!« Damals hatte sie verstanden, was es bedeutet, wenn sich eine Idee verselbstständigt, und sie hatte gelernt, dass Sehnsucht und Bedrohlichkeit relativ waren. So fasste sie die Argumentation derjenigen auf, die damals gerufen hatten: Sie wollten die Revolution, den Abschied vom bisherigen Leben und ohne Sinn und Verstand das Alte hinter sich lassen.
Draußen detonierte etwas. Hannah zuckte zusammen. Der Raum hatte sich sichtlich geleert. Die meisten waren zum Feiern weitergezogen. Der rote Glanz der über der Straße explodierten Feuerwerksrakete flutete kurz Boden und Wände. Hannah schien wie aus einer Trance erwacht und wieder suchte sie nach Lydia. Schließlich gab sie auf und sank in die Sitzgruppe. Von dort aus sah die Leinwand gar nicht mehr so groß aus. Das Bild war zusammengeschrumpft, doch der Ton der Übertragung siegte über das dumpfe Lallen der wenigen, noch verbliebenen Gäste. Hannah lauschte dem Programm, doch ihr Blick haftete auf dem Boden, wo ihr das Licht der Felder, die vom Schatten des Fensterkreuzes unterteilt wurden, zu weiß oder klar erschien, um von der Straßenbeleuchtung herzurühren. Auf der Leinwand unterhielten sich zwei Frauen. Die eine davon war offensichtlich eine Art Journalisten, wer die andere war, wusste Hannah nicht, weil sie am Anfang der Übertragung noch in Gedanken versunken gewesen war.
»Zweifeln Sie das Ergebnis an?«, wollte die eine wissen. Hörte Hannah da eine Spur Überraschung heraus?
»In gewisser Weise: Ja«, lautete die Antwort der anderen. Hannah gefiel der Klang dieser Stimme. So blickte sie kurz vom Boden auf, ließ den Kopf aber schnell wieder sinken, weil sie auf der Leinwand keine Einzelheiten erkennen konnte. »Da wären die sechs Prozent: Sechs Prozent, die falsch abgestimmt haben sollen? Das sind fast zehn Prozent und das würde bedeuten, dass einer aus zehn nicht fähig sein soll, ein Kreuz richtig zu machen?«
»Vielleicht sollte es ein Votum der Enthaltung sein?«, konterte die Interviewerin.
»Warum sollten sich so viele enthalten?«, setzte die andere Frage gegen Frage. Hannah wäre eine Antwort eingefallen. »Nein, nein. Ein paar Enthaltungen vielleicht. Vielleicht auch ein paar fehlerhafte Stimmabgaben. Aber in erster Linie muss nun der Frage nachgegangen werden… und das muss eine internationale Aufgabe sein! …also der Frage nachgegangen werden, ob hier manipuliert wurde. Und zwar im großen Maßstab. Sechs Prozent – das schaut zunächst vielleicht nicht entscheidend aus. Aber es muss überprüft werden.«
»Was erhoffen Sie sich davon? Das Abstimmungsergebnis steht fest und es wurde signalisiert, dass sich alle Länder von Rang und Namen daran halten werden.«
Eine Pause folgte.
»Sehen Sie, von verschiedenen Stellen – das ist belegt – wurde im Vorfeld der Abstimmung versucht, Einfluss auf das Ergebnis zu nehmen. Ich denke da an Lobbyisten und eine ganze Reihe von Regierungen.« Wieder hielt die Befragte kurz inne. »Glücklicherweise hat die Bevölkerung die richtige Antwort gegeben. Siebzig Prozent – das spricht eine klare Sprache. Aber wäre das Ergebnis nun etwas knapper ausgefallen? Dann wären sechs Prozent wirklich gewichtig gewesen. Außerdem kennen wir alle die Berichte, dass in verschiedenen Ländern versuchte wurde, die Bevölkerung daran zu hindern, abzustimmen. Das alles muss aufgeklärt werden. Nur weil die Befürworter der Mondabschaffung die Abstimmung gewonnen haben… Verstehen Sie? Wir haben ja erst dann wirklich gewonnen, wenn der Mond wirklich weg ist. Und wer ist mit der Umsetzung betraut? Dieselben, die ein Nein-Lager erfunden und dann Milliarden in Kampagnen dieses Nein-Lagers gesteckt haben; dieselben, die die Registrierungskriterien zuungunsten eigentlich Wahlberechtigter im letzten Moment geändert haben; dieselben, die die Kontrolle über die Wahlpapiere oder Wahlcomputer hatten; und dieselben, die die Auszählung der Urnen überwachen; und dieselben, die Wahllokale grundlos vorzeitig geschlossen haben. Leider könnte ich noch mehr Beispiele nennen. Ich sehe da noch viele offene Fragen.«
Hannah war inzwischen alleine. Nach einer kurzen Pause und Einspielungen von Jubelbildern aus der ganzen Welt folgte eine Diskussionsrunde mit der Leitfrage, wie die Abstimmung zu interpretieren sei. Rasch kristallisierten sich verschiedene Lager heraus.
»Den Mond abschaffen – was soll das überhaupt heißen?«, meinte eine relativ junge Frau. Hannah konnte die Einblendung des Namens nicht lesen, aber wenn sie es richtig verstanden hatte, handelte es sich hier um eine Physikerin. »Ich glaube, den meisten ist gar nicht bewusst, wie groß der Mond ist. Ich frage gerne mal die Anwesenden: Welchen Durchmesser hat er? Welche Masse? Ich habe schon die ganzen letzten Monate mit Erschrecken verfolgt, mit wie wenig Wissen die Debatte geführt wurde. Den Mond abschaffen! Ich glaube, viele stellen sich das so vor, dass wir einfach ein paar Raketen, vielleicht mit Atombomben, starten und den Mond damit sprengen. So wird das nicht funktionieren.«
Den letzten Satz hatte die Frau mit einem Lachen unterlegt.
»Welchen Vorschlag hätten Sie denn?«, wurde sie gefragt.
»Dafür komme ich wieder auf die Grundfrage zurück. Den Mond abschaffen. Was bedeutet das? Meine Antwort wäre, dafür zu sorgen, dass er aus dem Leben der Leute verschwindet. Aus wissenschaftlicher Warte gäbe es dazu viel mehr zu sagen. Aber ich möchte mich erst einmal auf den wichtigsten Aspekt beschränken: Die Leute ›spüren‹ den Mond, weil sie nachts sein Licht sehen. Dieses Licht gilt es also, ja, sagen wir einfach: abzustellen. Ich habe ein paar ganz erstaunliche Papiere zu diesem Thema gelesen. Ich möchte die Zuschauer nicht mit Einzelheiten langweilen. Aber eine Idee basiert auf einem Kunststoff, den man wie eine Farbe verwenden könnte, der sämtliches Licht absorbiert, das heißt schluckt. Die Leute kennen das wahrscheinlich aus ihrem Alltag: Eine helle, glatte Tischdecke glänzt im Mittagslicht heller als eine dunkle, raue. Dieses Prinzip könnte man sich zunutze machen: Diese ›Tischdecke‹ für den Mond wäre sozusagen fast vollkommen dunkel. Die andere Idee, die ich noch kurz vorstellen möchte: Woher kommt das Mondlicht? Der Mond selbst leuchtet nicht, er wird nur von der Sonne angestrahlt und wirft dieses Licht auf die Erde. Auch diesen Vorgang kennen die Leute von zuhause, von einem Spiegel. Nun wäre also die Aufgabe für uns Wissenschaftler und die Techniker, einen Weg zu finden, damit das Sonnenlicht gar nicht erst den Mond erreicht. Ich habe hierzu von einer Idee gelesen, wonach man eine Art gigantisches, bewegliches Segel im All immer so platziert, dass der Mond sozusagen im Schatten dieses Segels liegt. Er wird nicht beschienen und bleibt in der Nacht auf der Erde völlig dunkel und wird damit unsichtbar.«
»Mir gefallen Ihre kreativen Lösungen«, regte sich ein Mann, der Stimme nach zu urteilen signifikant älter als die Physikerin. »Aber ist es wirklich das, was die Menschen wollen? Wir – ich nehme mich da gar nicht aus – haben zu lange nicht genau genug hingehört. Nun gibt es mit der Auslegung des Wahlergebnisses neues Ungemach. Deswegen haben ich und meine Partei schon im Vorfeld versucht, die Wahleingabe zu ändern. Ich habe mich immer schon am Wort ›abgeschafft‹ gestört. Hätten wir in der Wahl das Wort ›zerstört‹ gehabt, dann hätten wir die leidige Diskussion nicht. Dann wäre alles klar. Leider war das international nicht durchsetzbar.«
»Warum eigentlich nicht?«
»Sie müssen sich vorstellen, dass die verschiedensten Regierungen und…«, er suchte nach einem geeigneten Wort, »Machthabenden zusammen in der Weltgemeinschaft eine gemeinsame Formulierung finden mussten. Das war eine Abstimmung vor der Abstimmung – und letztlich ein Kompromiss.«
»Ein Kompromiss, der neue Probleme mit sich bringt«, ergänzte eine neue Stimme. Dieser Mann klang jünger, aber kraftlos. »Ich weiß von Umfragen, wohlgemerkt nur unter den Wahlberechtigten, die für die Abschaffung waren, wonach es kein einheitliches Bild gibt, was Abschaffung überhaupt bedeuten soll. Eine bloße Verdeckung wird vielen nicht genügen. Sie werden sich betrogen vorkommen, schließlich wissen sie ja ganz genau, dass der Mond trotzdem noch um die Erde kreist, auch wenn man ihn nicht sieht.«
»Die Politik«, Hannah vermochte gar nicht zu bestimmen, von wem dieser Einwand stammte, »ist eben nach wie vor zu feige und nicht in der Lage, an einem Strang zu ziehen.«
»Stimmt es denn wirklich, dass es technisch gar nicht möglich ist, den Mond zu entfernen?« Diese Frage musste vom Diskussionsleiter kommen.
»Ich gebe der werten Frau Kollegin Recht, dass man den Mond nicht einfach so sprengen kann. Man muss sich letzten Endes ja auch überlegen: Wohin mit den Trümmern? Aber man muss schon versuchen, auch die Mittel zu seiner Zerstörung mit dem gleichen Elan zu suchen, wie Methoden, um den Mond nur nicht sichtbar zu machen! Auch ich habe in den letzten Wochen viele Publikationen gelesen und es ist wirklich nicht so, dass wir keine Möglichkeiten besäßen, auch einen Himmelskörper in der Größe des Mondes – nebenbei bemerkt, beträgt der Monddurchmesser dreitausend Kilometer – kontrolliert zu zerstören.«
»Natürlich besäßen wir, tja, gewisse Mittel.«
»Nun, eben!«
»Aber man darf die wissenschaftliche Seite den Leuten nicht verschweigen. Ich sage es nur sehr ungern, aber: Entgegen anders lautender Behauptungen hätten wir auch große Schwierigkeiten zu erwarten, wenn der Erde der Mond wirklich – ich meine wirklich, das heißt physikalisch – verloren gehen würde.«
»Das ist Astrophysik und…«
»Ja, das ist Astrophysik«, der Ton wurde rauer. »Aber Sie dürfen nicht so tun, als würde es deswegen keine Rolle für die Leute spielen und ganz konkret für ihr Leben. Bloß weil die Menschen das nicht verstehen, heißt es noch lange nicht…«
»Da haben wir sie wieder und, nein,…« Hannah wandte den Blick erneut nach oben, weil die Art, wie diese Unterbrechung geklungen hatte, deutlich darauf verwies, dass sich auf dieser Bühne der Diskussion eine Handlung abspielte. Sie konnte jedoch nichts erkennen; ein Umschnitt des Kamerabildes, gewollt oder nicht, erfolgte. »Die Überheblichkeit gewisser Gruppen, egal, wie sie sich nennen, die den Menschen die Reife und Selbstständigkeit absprechen wollen, Entscheidungen zu treffen; einfach so tun, als würden es die Menschen nicht verstehen. Als wären die Leute dumm. Die Menschen wussten sehr genau, um was es da ging und sie haben da eine sehr bewusste Entscheidung getroffen. Da wird etwas als Wissen verkauft, bei dem es sich allenfalls um Standesdenken handelt.«
»Ich habe mich vielleicht nicht glücklich ausgedrückt, aber…«
Sie musste Lydia suchen. Hannah erhob sich in einer einzigen Bewegungen, voller Schwung, als hätte nur dieser Plan ihr die Kraft dafür gegeben und als müsste sie auch tatsächlich alle Energie dafür aufwenden, denn was sich die Diskutanten zuriefen, schien Hannah plötzlich nicht mehr zu erreichen.
Sonderlich viel los war nicht in der Bahn, sodass Hannah sich einen Sitzplatz wählen konnte. Sie ließ sich neben einem älteren Mann nieder, ihnen gegenüber saß ein Jüngling, der zuerst durch Hannah hindurch sah, sie aber mit zunehmendem Verlauf der Fahrt anzustarren begann.
»Die sind alle wie verrückt«, nuschelte der ältere Mann.
»Verzeihung?«, fragte Hannah. Sie hatte ihn, in Gedanken versunken, wirklich nicht verstanden.
»Wegen des Mondes«, sagte er schon lauter.
»Ja. Sie meinen die Entscheidung?«, erkundigte sie sich noch. Wann hatte Lydia die Zusammenkunft verlassen?
»Verrückt!«, entfuhr es dem Mann, so laut, dass es auch ihr Gegenüber hatte hören müssen. So oder so, er schwieg.
»Sie meinten wohl, es gäbe gute Gründe«, entgegnete Hannah bedächtig.
»So? Wie sollten die denn aussehen? Welche guten Gründe kann man haben, den Mond abschaffen zu wollen?«
»Nun«, hob Hannah an, wartete dann aber die Ansage zum nächsten Halt ab. »Viele sagen, dass sie bei Vollmond schlecht schlafen.«
»Dann sollen sie ihre Fensterläden schließen«, erwiderte der Mann relativ ruhig. Er sah Hannah nicht an, eigentlich blickten beide stur geradeaus.
»Sie sagen, sie würden es trotzdem spüren.«
»Das glaube die zu spüren? Aber dass der Mond für Ebbe und Flut verantwortlich ist, glauben die nicht?«
»Vielleicht glauben sie es. Aber sie glauben eben auch, dass es für die Erde nicht von Nachteil sein muss, wenn es Ebbe und Flut nicht mehr gibt.«
»So?«, fragte der ältere Mann nach, aber in einem leicht aufgebrachten Tonfall, den Hannah von früher kennen konnte. Das war die Reaktion derer, die sich mit einer Argumentation oder Denkweise konfrontiert sahen, zu der es überhaupt keine Anknüpfungspunkte gab – oder zumindest nicht für sie. Daraus sprach bereits die Hilflosigkeit. Hannah bemerkte es wohl. Aber im Gegensatz zur ersten Zeit verschaffte ihr dies keinen schelmischen Triumph und versetzte ihr im Gegensatz zu den letzten Monaten keinen Schauder. Konnte sie sich überhaupt sicher sein, dass Lydia nach Hause gefahren war?
»Seit hunderttausenden von Jahren haben alle nach oben geschaut und den Mond angeschaut und wir wollen ihn jetzt abschaffen?«, begann der alte Mann von Neuem.
»Weil wir es können«, antwortete Hannah ganz selbstverständlich. »Unsere Ahnen hätten von sowas nicht mal zu träumen gewagt. Wir haben das hingegen in unserer eigenen Hand.«
»Ich weiß, worauf das hinausläuft«, sagte der Alte; er klang nun sehr müde. »Nur wenn er erst einmal weg ist, dann können die ihn nicht mehr zurückbringen. Da werden sie sehen und lernen, dass sie eben doch nur kleine Menschen sind.«
»Warum sollten sie ihn zurückholen wollen?« Erstmals stellte Hannah eine Frage. Es war einfach alles zu leicht. Sie hatte diese Gespräche zu oft geführt, hatte sich zu oft auf beiden Seiten wiedergefunden, um sich jetzt, da die Entscheidung gefallen war, noch zu bemühen: Um eine andere Beweisführung auszuhebeln oder sie ins Leere laufen zu lassen, musste man zuvor die fremde Perspektive eingenommen und durchgespielt haben. Gestern oder vorgestern um diese Uhrzeit hätte sie vielleicht noch Anstrengungen unternommen, zu erklären, warum welche Argumentation schlicht nicht zielführend sein konnte. Nicht, dass ihr das Wissen darum am Ende etwas genützt hatte... Das Abstimmungsergebnis zeugte eindrücklich von Hannahs Versagen. Wo sollte sie sie anders suchen, als in Lydias Wohnung?
Durch den nächsten Stopp, der die Unterhaltung wie ein eigentümliches Ritual unterbrach, gewann der Alte Zeit. Er schielte nicht einmal nach Hannah und schien plötzlich selbst die Lust an einer vernünftigen Auseinandersetzung mit dem Thema verloren zu haben.
»Die Generationen von Verliebten, die Händchen haltend den Mond betrachtet haben!«, brachte der Greis schließlich doch noch hervor.
»Die Unmenge derer mit gebrochenen Herzen, die endlich ein Symbol für die große Lüge der romantischen Liebe besiegt haben!«, hielt Hannah dagegen. Die alten Versatzstücke wirkten noch: Der junge Mann, der ihnen gegenübersaß, machte große Augen. Irgendwo musste Hannah schließlich ihre Suche nach Lydia beginnen und wenn sie sie nicht in der Wohnung anträfe, könnte sie sich zumindest bei einem Nachbarn erkundigen, falls sie einem im Treppenhaus begegnen sollte.
Von nun an herrschte Schweigen, nur die Blicke des jungen Mannes, der Hannah gegenübersaß, sprachen noch. Doch sie bemerkte ihn gar nicht.
Hannah war nicht derart in Gedanken versunken, dass sie ihren Halt verpasst hätte. Die Säulen und Schilder der Station, hunderte Male gesehen, lösten bei ihr etwas wie ein automatisches Programm aus. Ohne sich vom Greis zu verabschieden, erhob sie sich und stieg aus. Der junge Mann folgte ihr, zuerst mit einem gehörigen Abstand, dann, nach einer Zeit, als hätte er erst einmal etwas mit sich selbst ausmachen müssen, schloss er mit nur wenigen, schnellen Schritten zu Hannah auf. Schon streckte er seine Hand aus, um nach ihrer Schulter zu fassen, entschied sich dann aber doch um, trat neben Hannah und sprach sie mit einem einleitenden Laut, der nicht mehr als ein Räuspern war, an.
»Entschuldigen Sie«, sagte er. Rasch wurde die Stimme dann fester. »Sie sind von Lunex, nicht wahr?«
Wie erschrocken wandte Hannah den Blick zum Fremden. Mehrere Momente verstrichen, ehe sie begriff, dass es sich um den jungen Mann aus der Bahn handelte, gerade so, als läge die Fahrt Stunden zurück.
Hannah bejahte. Ein Lächeln huschte über das Gesicht ihres Gegenübers, Hannah aber wurde traurig.
Der junge Mann schien nicht recht zu wissen, wie es weiter gehen sollte. Sein Mund öffnete sich leicht, er holte Luft, als sammelte er sich für neue Fragen, für Komplimente.
Hannah ließ ihn einfach stehen. Quälend lang wurde ihr der Weg zu Lydias Wohnung, jede Unterbrechung fühlte sich an, als entfernte sie sich weiter, statt ihr näher zu kommen. Der Andere aber blieb zurück, ohne einen neuen Versuch bei Hannah zu starten. Unfähig, eigentliche Wünsche und Ziele zu artikulieren, war er bereits durch diese Begegnung zufrieden gestellt. Vielleicht ärgerte er sich, dass er ausgerechnet heute sein ›Lunex‹-Fan-Shirt nicht getragen hatte.
Die Eingangstüre war nur angelehnt. Natürlich ließ das Hannah stutzen, doch als ihr Herz beim Eintreten in die Wohnung wie wild zu rasen begann, da wusste sie es bereits. Mit langsamen Schritten ging sie den Flur entlang. Die Tür zum Wohnzimmer stand weit geöffnet. Hannah blieb stehen. Sie sah den Tisch; die Gegenstände auf ihm waren nur Schemen. Seitlich versetzt, am Boden: ein Stuhl, mit der abgerundeten Lehne leicht schief liegend. Hannah wagte einen weiteren Schritt, der neue Winkel gab andere Bereiche des Raumes Hannahs Blicken frei. Im sanften Licht des Morgens zeichnete sich ein Schatten ab, oben, das heißt, tief im Raum gelegen, hauchdünn, so dünn, dass man ihn fast nur erahnte, dann breiter werdend, sich schnell vergrößernd, mit Kurven, fast wie ausfließend und abrupt endend. Der Schatten schwang ganz leicht hin und her.
Hannah hielt kurz den Atem an. Sie traute sich nicht, weiter zu gehen, es war auch unnötig. Dann war es nicht mehr auszuhalten. Mit schnellen Sätzen, so als würde sie gejagt, hetzte sie im Flur zurück. Sie kannte die Wohnung ja genau, gerade noch rechtzeitig erreichte sie das Badezimmer. Dem Krampf folgte ein Moment der Ruhe, doch dann, im Bewusstsein dessen, was im anderen Zimmer, nur durch eine Wand von ihr getrennt, war, übergab sich Hannah ein zweites Mal. Die innere Leere dämpfte schließlich auch die Gefühle.
Was sollte sie nun tun? Einen Notarzt alarmieren? Jetzt noch? Die Polizei rufen, gewiss. Noch aber kauerte sie, an die Wanne gelehnt neben der Toilettenschüssel. Hatte sie eigentlich auf dem Weg zur Wohnung eine Entschuldigungsrede vorbereitet? Welche Schuld trug sie denn, von der sie sich vor Lydia befreien hätte müssen? Hätte sie sich, ihr beider Tun, gerechtfertigt? Hatte sie gehofft, von Lydia eine Absolution zu erhalten, ausgerechnet von Lydia, die doch dieselbe oder zumindest die gleiche Verantwortung trug wie Hannah selbst? Hannah erschrak ob dieser Fragen, weil sie bedeuten konnten, dass es ihr bei der Suche nach Lydia gar nicht wirklich um Lydia gegangen war. Es war zu spät, sich bei Lydia zu entschuldigen, es war auch zu spät, um Lydia Vorwürfe zu machen.
Langsam richtete sich Hannah auf. Draußen, auf der Straße wurde es wieder laut. Die Leute feierten schon wieder oder immer noch die Abschaffung des Mondes.