Das archäologische Labor lag direkt vor ihr, nur zehn Meter den Korridor runter, die Tür auf der linken Seite. Und doch schaffte Jasmine es einfach nicht, sich zum hingehen zu überwinden. Es lag nicht daran, dass der Gang verlassen war und größtenteils im Dunkeln lag – hier glühte noch immer der Notstrom –, was ihm eine beunruhigende Note verlieh, wie etwas, aus einem Gruselroman. Nein, es war eher so, dass sich ihre Stiefel anfühlten, als wären sie mit Blei gefüllt, oder als gäbe es ein unsichtbares Kraftfeld, das sie daran hinderte, sich auch nur einen einzigen Schritt weiter auf die Tür weiter zu zubewegen, hinter der vor wenigen Stunden noch ihr Arbeitsbereich gelegen hatte.
Nun nicht mehr.
Nun war es zu einem Tatort geworden, was man deutlich an den Markierungen erkennen konnte, die von den Sicherheitsleuten hinterlassen worden waren. Das Ausmaß der Zerstörung dort drinnen musste beträchtlich sein, und Jasmine brachte nicht über das Herz, sich diesem Anblick zu stellen.
Noch nicht.
So stand sie seit geschlagenen fünf Minuten mitten auf dem Gang, und rieb sich unentschlossen das rechte Handgelenk, während sie versuchte, Kraft zu sammeln. Natürlich hatten die Ärzte gute Arbeit geleistet, und das gestauchte Gelenk im – henh - Handumdrehen wieder hingebogen. Nichts desto trotz war der Schmerz, den sie sich im Kampf zugezogen hatte, so heftig gewesen, dass sie noch immer glaubte, ihn deutlich spüren zu können, wenn auch in leicht abgemilderter Form.
Und das war nicht die einzige Wunde, die es zu behandeln gab. Eine gute dreiviertel Stunde hatte es gedauert, ehe die Ärzte mit ihr fertig waren. Eine dreiviertel Stunde, in der man sie in der sekundären Krankenstation gescannt, durchleuchtet, wieder gescannt, gestochen, gekniffen und auf ein Dutzend andere Arten gepiesackt hatte; eine Untersuchung, die normalerweise wohl einen ganzen Tag in Anspruch genommen hätte, wäre sie die einzige Patientin gewesen. Aber es gab dringendere Fälle in der Hauptabteilung, die nach der Attacke der Fremden medizinische Hilfe benötigten, und so hatte man sich beeilt, Jasmine schnellstmöglich zu entlassen. Das war vor gut zwanzig Minuten gewesen. Sie hatte direkt ins Labor gehen und den Schaden begutachten wollen, aber...
... dann hatte sie der Mut verlassen.
Aus irgendeinem Grund wollte sie mit dem Chaos nicht konfrontiert werden, denn dadurch hätte der Angriff – nicht nur auf das Schiff, sondern auch auf ihr eigenes Leben - endgültig etwas reales, erschreckendes bekommen, etwas, das sie sich nicht mehr als gewöhnlichen Zwischenfall schönreden konnte, sondern ganz im Gegenteil, eine Angelegenheit, die eine Schneise der Verwüstung und eine Liste von Toten hinterlassen hatte, zu der sie auch beinahe gehört hätte.
Nicht zum ersten Mal, schoss es ihr durch den Sinn. Und vermutlich auch nicht zum letzten Mal. Sie schnaubte, schalt sich eine Närrin und überwand sich schließlich doch. Sie hatte nichts als die reale, brutale Welt des Alls erleben wollen, vor der ihre Eltern sie zu schützen versucht hatten. Nun war sie mitten drin. Und sie konnte sie meistern. Entschlossen durchquerte sie die letzten paar Meter des Korridors, passierte die holographischen Warnschilder, die kurz aufflackerten, und trat ein. Düsteres Halbdunkel empfing sie. Jasmine gestattete ihren Augen einen Moment lang, sich an die ungewohnten Lichtverhältnisse zu gewöhnen. Als sich die ersten Umrisse herausschälten, und sie das Labor in seiner Gänze überschauen konnte, musste sie blinzeln.
Es war nicht so schlimm, wie sie angenommen hatte.
Es war viel schlimmer.
Der ganze Raum glich einem Schlachtfeld und war kaum wiederzuerkennen. Der Boden war übersät mit Trümmern, umgestürzten Regalen und Tischen, und zerstörten Geräten. Rückstände superheißen Plasmafeuers schwärzte weite Teile der Wände, sodass es aussah, als hätten die Schatten Löcher in den Raum gerissen. Viele der Wandkonsolen und Anzeigefelder waren geborsten, zwei flackerten in unbeständigen Abständen und ihr stroposkopisches Flackern verlieh dem Raum etwas unheimliches.
Zögernd trat Jasmine ein. Es knackte und knirschte unter ihren Stiefeln. Sie bemühte sich, möglichst nirgends draufzutreten, und nicht noch mehr Schaden anzurichten, aber es gab praktische keine von Trümmern freie Fläche mehr auf dem Boden, sodass sie den Versuch auch recht schnell wider aufgab. Was spielte es noch für eine Rolle?
Jasmine wusste nicht, ob die Fremden für all diese Zerstörung gesorgt hatten, oder Levinoi mit ihrer mutigen Gegenwehr. In jedem Falle hatten sich beide Parteien während der Konfrontation offenbar nichts geschenkt – und wenig auf Kollateralschäden geachtet. Jasmine blieb mitten im Raum stehen, als sie etwas entdeckte, ging in die Hocke, und zog eine von McDougals afrikanischen Masken unter einer herabgefallenen Wandabdeckung hervor. Die Maske war zerbrochen. Nur noch Scherben übrig.
„Der Lauf der Geschichte.“, murmelte sie bitter in die Stille hinein. Nach einem Moment der stillen Andacht, legte sie die Maskenreste vorsichtig wieder dorthin ab, wo sie sie hergeholt hatte, schloss die Augen und verbarg kurz das Gesicht zwischen den Händen. Sie war müde und gerädert, und doch war jetzt keine Zeit zum Ausruhen. Dafür zeugten schon alleine die Schritte, die sich vom Gang her zügig näherten. Als Jasmine den Kopf drehte und einen Blick über die Schulter warf, betrat gerade der Captain den Raum, offenbar auf der Suche nach ihr.
Jasmine erhob sich. „Sir?“